Glaubwürdige Fiskalregeln werden zunehmend wichtig

Standpunkt

Von Friedrich Heinemann und ZEW-Präsident Achim Wambach

Friedrich Heinemann und Achim Wambach befassen sich in ihrem aktuellen Standpunkt mit der Bedeutung glaubwürdiger Fiskalregeln angesichts eines sinkenden europäischen Wachstumspotenzials.

Europäische und nationale Schuldenregeln haben im aktuellen Diskurs einen schweren Stand. Angesichts der Herausforderungen durch den Klimawandel, die Demographie und die Verteidigung erscheint es kaum noch vermittelbar, warum sich die Politik selbst Fesseln anlegt. Wieso also sprengen wir nicht endlich die Ketten von Schuldenbremse und europäischem Stabilitätspakt, um schuldenfinanziert die Zukunft zu gestalten? So plausibel diese Denkweise der Fiskalregelkritiker erscheint, so wenig kann sie letztlich überzeugen. Denn sie beruht auf der grundlegenden Fehleinschätzung, dass eine Schuldengrenze eine künstliche Grenze setzt, wo es ansonsten keine Grenze geben würde. Das aber ist falsch, denn kein Land hat einen unbegrenzten Verschuldungsspielraum. Eine wesentliche Auf­gabe einer Schuldenregel ist es, ein Land nicht zu eng an die maximal finanzierbare Schuldenobergrenze rücken zu lassen, weil es dann jeglichen Handlungsspielraum verlieren würde oder in eine ex­trem kostspielige Schuldenkrise gerät.

Der maximale Verschuldungsspielraum wird maßgeblich durch das Verhältnis von dem in Zukunft erzielbaren realen Wachstum („g“) und dem langfristigen Realzins („r“) bestimmt. g ist von Bedeutung, weil es Auskunft gibt, wie sich die Fähigkeit zur Er­hebung von Steuern entwickelt. r ist maßgeblich, weil es die Zinslast der Staatsverschuldung bestimmt. Hier lassen sich zwei Regime unterscheiden. Wenn der Zins unter der Wachstumsrate liegt („r kleiner g“), dann kann ein Land die Zeit für sich arbeiten lassen und aus jeder noch so hohen Schuldenquote herauswachsen. Das Wachstum der Wirtschaftsleistung und der Steuereinnahmen entlastet den Staat in dieser Konstellation stärker, als die Verzinsung der Altschuld belastet. In diesem Fall ist es sogar möglich, dauerhaft ein hohes Defizit zu haben, ohne dass der Schuldenstand im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung davonläuft. Ganz anders stellt sich die Lage dar, wenn der Zins über der Wachstumsrate liegt („r größer g“). Dann gibt es keinen dauerhaften Defizitspielraum, wenn die Verschuldung nicht außer Kontrolle geraten soll. Denn der Altschuldenstand mit seinen Zinsbelastungen würde im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung permanent wachsen, wenn die Haushaltspolitik nicht ständig im laufenden Haushalt Überschüsse erwirtschaften würde.

Diese Fallunterscheidung ist für die heutige Diskussion zur Schuldenbremse und zum EU-Stabilitätspakt hochgradig relevant. Die letzten Vor-Corona-Jahre waren für Deutschland und die meisten EU-Staaten eine Zeit, in der der Zins weit unter der Wachstumsrate lag. Diese fiskalisch günstigen Zeiten sind heute vorbei, und vieles spricht dafür, dass sie auch in den kommenden Jahrzehnten nicht zurückkehren werden. Die Renditen (r) von Euro-Staatsanleihen sind nicht nur nominal, sondern auch real angestiegen, wenn man realistische Inflationserwartungen zugrunde legt. Gleichzeitig fallen die Aussichten zum Potentialwachstum (g). Demographie, aber auch die Transformation und ein Verlust europäischer Wettbewerbsfähigkeit lassen die Wachstumschancen in Deutschland und anderen EU-Ökonomien weiter fallen. So verwundert es nicht, dass der MIT-Makroökonom Olivier Blanchard kürzlich zurückruderte. 2019 hatte er noch in einem viel beachteten Vortrag mit dem Argument, dass r kleiner als g sei, auf die ungenutzten Spielräume in der Staatsverschuldung hingewiesen. Jetzt warnte er vor einer ex­plo­dierenden Verschuldung in den USA und Europa. Der Wind habe sich gedreht, und r sei mittlerweile gleich oder größer als g. All das bedeutet, dass sich der an den Märkten gegebene Verschuldungsspielraum zunehmend verringert. Für die hoch verschuldeten Länder in Europa dürfte ohne externe Garantien der EU oder der EZB schon heute kaum mehr ein nennenswerter „Fiscal Space“ bestehen. Dies war in der Pandemie bereits deutlich sichtbar, als große Krisenprogramme in Italien oder Spanien rein national nicht finanzierbar waren, sondern die groß angelegte EU-Finanzoperation des gemeinschaftlich garantierten Corona-Wiederaufbauplans notwendig wurde.

Defizite sollten nur für Ausgaben, die das Wachstumspotential stärken, zulässig sein

Die zunehmende Einengung des verbleibenden Verschuldungsspielraums hat für die Debatte über die Reform von nationalen und europäischen Fiskalregeln mindestens vier Konsequenzen.

Erstens werden glaubwürdige Fiskalregeln zur Vertrauensbildung heute zunehmend wichtig. Sie signalisieren den Kapitalmärkten, dass es in Zukunft trotz der bereits heute gefährlich hohen Verschuldung nicht zu Verschuldungskrisen kommt. Eine Aufweichung von Regeln würde dagegen destabilisierend wirken und die Gefahr von neuen Schuldenkrisen weiter erhöhen.

Zweitens kommt es in allen Reformen von Schuldenregeln darauf an, das Wachstumspotential zu stärken, um „r minus g“ wieder zu verringern. Defizite sollten daher nur für solche Ausgaben zulässig sein, die das Wachstumspotential erhöhen. Diese Bedingung wird aber für viele dringende europäische Aufgaben von Verteidigung über soziale Konvergenz bis hin zur Finanzierung globaler öffentlicher Güter im Bereich Entwicklung oder Klima nicht erfüllt. All diese Ausgaben mögen politisch geboten sein, sie erhöhen aber kaum das nationale Potentialwachstum und können deshalb nicht schuldenfinanziert werden, ohne eine problematische Entwicklung der Staatsverschuldung in Gang zu setzen.

Drittens sind effektive Fiskalregeln für die Glaubwürdigkeit der Geldpolitik unverzichtbar. Würde der Schuldenstand in der Eurozone durch eine Schwächung der Regeln weiter außer Kontrolle geraten, dann würde der Druck auf die EZB noch stärker wachsen, Zinsen und Zinsunterschiede zwischen den Euroländern durch eine entsprechend lockere Geldpolitik zu begrenzen und letztlich eine inflationäre „Lösung“ des Schuldenproblems einzuleiten.

Viertens sind weiterhin wirksame Fiskalregeln nicht nur in den Hochschulden-staaten unverzichtbar. Auch für das vergleichsweise niedrig verschuldete Deutschland bleiben sie gerade aus europäischer Warte essenziell. Denn die fiskalische Stabilität Deutschlands ist kritisch für die Funktionsfähigkeit europä­ischer Finanzierungsinstrumente wie Next Generation EU. Ohne den Garanten Deutschland würden diese Instrumente nicht mehr finanzierbar sein. Ein schwindender Verschuldungsspielraum in Deutschland würde somit die europä­ische Finanzstabilität gefährden, die spätestens seit der Pandemie stark von der Glaubwürdigkeit europäischer Kreditinstrumente abhängt.

Dieser Standpunkt erschien zuerst als Gastbeitrag in der FAZ.