Reformstau in Deutschland - Besonders in Krisenzeiten steigt die Bereitschaft zur Veränderung

Nachgefragt

Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Landes hängt von seiner Fähigkeit ab, seine sozialen Sicherungssysteme, seinen Arbeitsmarkts und sein Steuersystem an ein sich veränderndes Umfeld anzupassen. In Deutschland stießen Reformen in den vergangen Jahren oftmals auf nur geringe Akzeptanz bei der Bevölkerung. Sie konnten teilweise nur mit hohen politischen Kosten durchgesetzt werden. Die Reformen am deutschen Arbeitsmarkt, bekannt als die Hartz-Reformen, sind solch ein Beispiel. Dr. Friedrich Heinemann, Leiter des Forschungsbereichs "Unternehmensbesteuerung und Öffentliche Finanzwirtschaft" des ZEW analysiert, warum Reformen häufig auf Widerstand treffen und erläutert Strategien gegen den Reformstau.

Dr. Friedrich Heinemann, Jahrgang 1964, promovierte nach dem Studium der Volkswirtschaftslehre und Geschichte im Jahr 1995 an der Universität Mannheim. Seit 2005 ist Heinemann am ZEW Leiter des Forschungsbereichs "Unternehmensbesteuerung und Öffentliche Finanzwirtschaft" mit derzeit 14 Mitarbeitern. Seine Forschungsschwerpunkte sind Fragestellungen des Fiskalwettbewerbs und Föderalismus in Europa. Darüber hinaus untersucht Heinemann die Determinanten von Reformprozessen. Neben seinem Engagement in verschiedenen wissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaften ist Heinemann unter anderem Vorstandsmitglied des Arbeitskreises Europäische Integration e.V. und Mitglied im Wissenschaftlichen Direktorium des Instituts für Europäische Politik, Berlin.

Viele Reformprojekte in Deutschland, so etwa im Gesundheitswesen oder in der Steuerpolitik, erscheinen als Stückwerk. Andere stehen unter ungeheurem Zeitdruck und gehen dennoch nicht voran. Was sind die Gründe für diesen Reformstau?

Es gibt viele Formen des rationalen Reformwiderstands: Bauern verteidigen sich gegen die Kürzung von Agrarsubventionen oder Apotheker gegen mehr Wettbewerb auf dem Apothekenmarkt, weil derartige Reformen diesen Berufsgruppen Nachteile bringen. Reformstau ist somit einerseits durch Partikularinteressen erklärbar. Andererseits spielen aber auch psychologische Gründe eine Rolle. So ist es oft der Fall, dass Reformverlierer ein Gesicht haben, Reformgewinner aber nicht. Beispielsweise ist im Vorfeld einer Lockerung des Kündigungsschutzes die Identität der Menschen unbekannt, die dadurch leichter zu einem Job kommen. Umgekehrt kann man Arbeitnehmer persönlich identifizieren, deren Jobs ohne Kündigungsschutz gefährdet wären. Diese Asymmetrie schwächt die Reformunterstützung. Zudem lieben Menschen schlichtweg den Status quo, weil der besonders vertraut ist. Das beste Beispiel hierfür ist das deutsche Gesundheitssystem. Niemand würde es in seiner aktuellen Form am Reißbrett entwerfen. Umgekehrt ist es unglaublich schwer, an diesem Produkt historischer Zufälligkeiten Änderungen vorzunehmen.

Ist Deutschland im internationalen Vergleich ein reformfeindliches Land?

Diesen Eindruck musste man in den zurückliegenden Jahrzehnten oftmals haben. In der jüngsten Vergangenheit haben Wähler und Politiker in Deutschland aber bewiesen, dass sie durchaus zu beachtlichen institutionellen Veränderungen in der Lage sind. Im Vergleich zu den anderen großen Staaten der Eurozone hat sich Deutschland positiv hervorgetan. Die Rentenreform (Nachhaltigkeitsfaktor, kapitalgedeckte Säule, Rente mit 67) oder auch die Arbeitsmarktreformen sind trotz aller Aufweichungen am aktuellen Rand ein Beleg dafür, dass Deutschland - zumindest unter bestimmten günstigen Konstellationen - reformfähig ist.

Werden die aktuelle Finanzmarktkrise und ihre Folgen für Konjunktur, Arbeitsmarkt und Gesellschaft Deutschland dazu zwingen, aufgeschobene Reformen nun doch wieder in Angriff zu nehmen?

Leider lehrt die Erfahrung, dass umfassende Reformen meistens nur gelingen, wenn sich die allgemeine Wahrnehmung durchsetzt, dass "es wie bisher nicht mehr weitergehen kann". Es ist kein Zufall, dass die Agenda 2010 mit ihren tiefgreifenden Arbeitsmarktreformen erst nach einem starken Anstieg der Arbeitslosigkeit und in einem allgemeinen Krisenbewusstsein möglich war. Umgekehrt hat sich die Reformbereitschaft in den zurückliegenden konjunkturell guten Jahren völlig verflüchtigt. Es ist noch nicht absehbar, welche realwirtschaftlichen Folgen die Finanzmarktkrise für Deutschland haben wird. Es ist durchaus vorstellbar, dass bereits im kommenden Jahr deutliche negative Folgen für Arbeitsmärkte und öffentliche Finanzen auftreten. Dann könnten beispielsweise eine Haushaltskonsolidierung und damit verbundene Reformen neue Aktualität erhalten. Zu hoffen ist, dass die Finanzmarktkrise die Arbeitsmarktpolitik vor leichtfertigen Job-Vernichtungsprogrammen wie einer Ausweitung des Mindestlohns oder Behinderungen der Zeitarbeit abhalten wird.

Wie können notwendige Reformen den Menschen so vermittelt werden, dass diese bereit sind, sie zu akzeptieren?

Wenn Ökonomen von den positiven Wachstums- und Beschäftigungsfolgen einer Reform reden, ist dies viel zu abstrakt, um wirklich die Menschen zu erreichen. Vielleicht sollten Ökonomen deshalb so mutig sein, Reformdividenden zumindest näherungsweise auf ein individuelles Einkommens-Plus umzurechnen. Wichtig ist es auch, den Reformgewinnern ein Gesicht zu geben. Hier können Reform-Experimente helfen. Regionale Pilotprojekte etwa zur Liberalisierung des Kündigungsschutzes könnten nicht nur Erfahrungswerte liefern, sondern auch helfen, Reformgewinner individuell zu identifizieren. Ein Langzeitarbeitsloser auf dem Sofa von Anne Will, der durch eine Reform einen neuen Job gefunden hat, hat politisch mehr Durchschlagskraft als so manches wissenschaftliche Gutachten.

Welche Rolle spielt es für die Reformfähigkeit eines Landes, wenn das Vertrauen der Wähler in die Politik abhanden kommt?

Der allgemeine Vertrauensverlust in die Glaubwürdigkeit von Parteien, Politikern und staatlichen Institutionen ist eine schwere Hypothek für die Reformfähigkeit eines Landes. Institutionelle Veränderungen sind immer komplex und ihre Folgen sind für den Einzelnen kaum absehbar. Es ist daher von großer Bedeutung, dass Wähler Vertrauen in die Kompetenz und Zuverlässigkeit der Politik und ihrer Berater haben. Zusagen, dass eine Politik Wachstum und Beschäftigung schafft und dass den Reformverlierern geholfen wird, sind unverzichtbar für die Akzeptanz von Reformen. Wenn Wähler aber den Versprechen der Politik generell misstrauen, dann stehen die Chancen schlecht, Reformwiderstand zu überwinden. Langfristig ist es daher die beste Reformpolitik, wenn Politiker besonders in Wahljahren nichts anderes erzählen, als das, was sie nach der Wahl auch tatsächlich umsetzten können.