Digitalisierung im Gesundheitswesen – ein langer Weg

Standpunkt

Standpunkt von Achim Wambach und Simon Reif

Die digitale Transformation des Gesundheitswesens ermöglicht durch umfassende Daten personalisierte Therapien und erfolgsbasierte Vergütung. Kluge Regulierung muss drohende datenbasierte Monopole durch proprietären Datenzugang vermeiden. Der Digital Markets Act (DMA) adressiert diese Gefahr, indem er marktmächtige Plattformen zur Datenteilung verpflichtet. Der geplante Europäische Gesundheitsdatenraum (EHDS) soll durch einheitliche Vorgaben zur Datenaufbereitung wirtschaftlich nutzbare Datenzugänge schaffen. In Deutschland behindern kurzfristige Vergütungsanreize, Individuallösungen (wie Selektivverträge) und eine mangelnde Infrastruktur zu oft das Entstehen digitaler Innovationen. Ökonomisch notwendig sind langfristig orientierte Anreizsysteme und stärker wettbewerbliche Rahmenbedingungen, betonen in ihrem Beitrag für die Zeitschrift Wirtschaftsdienst ZEW-Präsident Achim Wambach und ZEW-Forschungsgruppenleiter Simon Reif.

Die zunehmende Verfügbarkeit von Daten führt zu einer fundamentalen digitalen Transformation des Gesundheitswesens. Diese Transformation betrifft sowohl die Behandlungsformen als auch die dazugehörigen Organisationsstrukturen. Umfangreiche Daten zu individuellen Veranlagungen und (Vor-)Erkrankungen ermöglichen eine stärker personalisierte Medizin. Ein Beispiel hierfür sind Gen-Medikamente, die auf einzelne Patient:innen zugeschnitten sind. Im Zuge dieser personalisierten Medizin ist durch größere Datenverfügbarkeit auch eine zielgerichtetere Prävention möglich, z. B. in Abhängigkeit von genetischen Veranlagungen und von individuellem Gesundheitsverhalten. Mit den Veränderungen in den Behandlungsformen gehen auch datengetriebene Änderungen in den Organisationsstrukturen einher, etwa bei den Vergütungsmechanismen. Aktuell erfolgt die Vergütung im Gesundheitswesen überwiegend auf Basis von erbrachten Leistungen, während neue Daten auch erfolgsbasierte Vergütungsformate möglich machen. Diese Entwicklung hin zur datenbasierten Versorgung birgt allerdings auch das Risiko, dass ein proprietärer Datenzugang zu datengestützten Monopolen führt. Eine solche Marktmachtstellung konnte in der Vergangenheit bei rein digitalen Geschäftsmodellen beobachtet werden. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen stellt sich die Frage, wie die Datenerhebung und Datennutzung im Gesundheitswesen bestmöglich reguliert werden können.

Besonderheiten digitaler Geschäftsmodelle

Die immer größere Datenverfügbarkeit und die breiteren Anwendungsmöglichkeiten von maschinellen Lernverfahren sowie generativer künstlicher Intelligenz erfordern eine Modernisierung der Regulierung von Leistungserbringung und Versorgungsplanung. Damit sich im Gesundheitswesen die Potenziale der Digitalisierung sowohl im Hinblick auf bessere Versorgungsqualität als auch auf Kosteneinsparungen durch Effizienzgewinne realisieren lassen, müssen bei der Konzeption dieser Regulierungen die Eigenheiten digitaler Geschäftsmodelle berücksichtigt werden. Diese Eigenheiten lassen sich in an den Dimensionen Geschwindigkeit und Marktmacht festmachen.

Bei digitalen Angeboten sind die Entwicklungszeiten deutlich kürzer und die Innovationszyklen schneller als bei analogen Angeboten. Im Gesundheitswesen lässt sich das am Beispiel des rapide wachsenden Marktes für Digitale Therapeutika oder bei den häufigen Erweiterungen von Medizinprodukten durch eine digitale Komponente beobachten. Die regulatorischen Prozesse sind jedoch an vielen Stellen nicht auf diese hohe Geschwindigkeit eingestellt. Die Entwicklung eines neuen Arzneimittels dauert im Durchschnitt über zehn Jahre (Schuhmacher et al., 2016) und selbst im beschleunigten „Breakthrough Therapy“-Verfahren der U.S. Food and Drug Administration (FDA) benötigt der Zulassungsprozess im Durchschnitt noch 32 Monate nach Abschluss der entscheidenden Phase-3 Studien (Chandra et al., 2024). Während auf regulatorischer Ebene inzwischen versucht wird, zumindest die Zulassungsprozesse auf die neuen digitalen Gesundheitsinnovationen anzupassen, folgen die Vergütungsmechanismen für digitale Technologien im Gesundheitswesen weiterhin dem starren Mechanismus, dass nach Zulassung auf Basis des in klinischen Studien ermittelten Nutzens Preise verhandelt werden. Um einen Anreiz zur Weiterentwicklung bereits im Markt befindlicher Gesundheitslösungen zu setzen, muss hier die Möglichkeit geschaffen werden, Preise dynamisch an Weiterentwicklungen anzupassen (Brönneke et al., 2023).

Ein immer stärker datenbasiertes Gesundheitssystem ist, wie andere digitale Geschäftsmodelle, der Gefahr von wohlfahrtsmindernder Marktmacht ausgesetzt. Beispiele können Plattformen zur Terminvergabe in Arztpraxen oder Algorithmen zur Diagnostik sein. Marktmacht entsteht dabei häufig entweder durch proprietären Zugang zu Daten mit entsprechenden Skaleneffekten, oder durch die (indirekten) Netzwerkeffekte auf Plattformen: Beides erschwert es potenziellen Neueinsteigern, sich im Markt zu etablieren. Für Plattformen im Gesundheitswesen ist noch unklar, ob der Wettbewerb ausreichend Alternativen entwickelt. Auch im Hinblick auf Algorithmen besteht neben der Gefahr, dass Anbieter mit hoher Marktdurchdringung und den dadurch immer größeren proprietären Datenquellen eine wohlfahrtsmindernde Marktmacht aufbauen, auch die Chance, dass Innovationen auf Basis datensparender Algorithmen auf den Markt kommen können, wie bei den aktuellen Anbietern von generativen KI-Modellen. Im Gesundheitswesen sind die Kosten von Marktmacht in Form von patentgeschützten Monopolisten bei innovativen Arzneimitteln durchaus akzeptiert. Der daraus entstehende finanzielle Anreiz soll Forschung und Entwicklung der Pharmafirmen befördern. Anders als bei patentgeschützten Monopolen haben datenbasierte Monopole jedoch kein Ablaufdatum. Entsprechend sorgsam müssen diese Angebote also aus Wettbewerbssicht beobachtet werden.

Regulierung digitaler Geschäftsmodelle

Die europäische Regulierung zu digitalen Geschäftsmodellen reagiert überwiegend auf die potenziellen Gefahren, die von diesen Innovationen ausgehen. Zunächst lag der Fokus darauf, missbräuchliches Verhalten der digitalen Giganten wie Alphabet oder Meta zu sanktionieren. Dieses Vorgehen hat sich jedoch als wenig effektiv erwiesen, da die Marktmacht der dominanten Firmen robuster als erwartet war. Mit dem Digital Markets Act (DMA) im Jahr 2023 wurde daher ein Strategiewechsel vollzogen: Große Plattformen müssen jetzt bestimmte Auflagen erfüllen, wie das Selbstbevorteilungsverbot, oder unter gewissen Umständen die Pflicht zur Datenteilung, unabhängig davon, ob dies missbräuchlich begründet ist oder nicht. Es wird sich zeigen, inwiefern dieser Strategiewechsel dazu beitragen kann, die europäische Digitalwirtschaft zu stärken, etwa indem europäische Unternehmen mehr Zugriff auf Daten bekommen. Auch im Gesundheitswesen sollte diese Entwicklung berücksichtigt werden: Ein bloßes Hoffen auf Wettbewerb und Missbrauchskontrolle ist nicht ausreichend. Zugang zu Daten ist wesentlich und muss, falls sich marktmächtige Strukturen abzeichnen, auch Wettbewerbern ermöglicht werden.

Während der DMA die Marktkräfte stärken soll, hat die EU gleichzeitig durch eine Vielzahl von Regulierungen den Handlungsspielraum der Unternehmen eingeschränkt. Die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO), als Angleichung innerhalb Europas und als Beitrag zu universalem Datenschutz gelobt, hat gleichzeitig die Innovationstätigkeit von Unternehmen und von Start-ups wesentlich eingeschränkt. Auch bei der KI-Verordnung von 2024 wird befürchtet, dass diese gerade für kleine Unternehmen eine Markthürde darstellt, und nicht, wie angestrebt, neue Freiheiten ermöglicht (Janeba, 2024).

Eine andere Facette zeigt sich bei der europäischen Regulierung von Gesundheitsdaten. Hier soll mit dem geplanten Europäischen Gesundheitsdatenraum (EHDS) die Grundlage für Geschäftsmodelle auf Basis von Gesundheitsdaten gelegt werden. Anders als bei den Daten, die bei den großen Online-Plattformen erst durch die neuen Geschäftsmodelle entstanden sind, gibt es im Gesundheitswesen eine Vielzahl an Datenquellen, die teilweise Jahrzehnte umfassen. Neben den Daten, die in klinischen Registern oder im Rahmen von klinischen Studien gesammelt werden, gibt es seit den 1980er Jahren Krankenhausinformationssysteme, deren Daten Einblicke in die Behandlungspfade geben (Prokosch, 2001), und Abrechnungsdaten, mit denen sich Krankheitsgeschichten auf individueller Ebene nachvollziehen lassen. Diese Gesundheitsdaten werden in vielen Fällen dezentral vorgehalten und sind in den meisten Fällen nicht ohne weiteres verknüpfbar. Es fehlen sowohl rechtliche als auch wirtschaftliche Grundlagen, um mit diesen Daten Geschäftsmodelle zu entwickeln. Vor diesem Hintergrund sollen nun auf europäischer Ebene die Rahmenbedingungen geschaffen werden, mit der Forschung und Industrie auf diese Datenquellen zugreifen können. Hierzu gehören Vorgaben zu Datenaufbereitung und Datenbereitstellung die von allen EU-Ländern umgesetzt werden müssen.

Zum deutschen Gesundheitswesen

Am Beispiel der Anforderungen des EHDS an die Gesundheitsdaten der einzelnen europäischen Länder lässt sich erkennen, dass es vielerorts bereits sehr gute Gesundheitsdaten-Infrastrukturen gibt. Deutschland liegt in dieser Hinsicht allerdings vergleichsweise weit zurück  (Kessissoglou et al., 2024). Der deutsche Rückstand der Gesundheitsdaten-Infrastruktur im Speziellen, aber auch bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens im Allgemeinen (Thiel et al., 2018) kann entsprechend nicht auf europaweite Vorgaben wie etwa der DSGVO beim Datenschutz zurückzuführen sein. Beigetragen haben eine Vielzahl von Ursachen, aber eine sticht heraus – die Kurzfristigkeit bei weiten Teilen der Entscheidungsträger im deutschen Gesundheitssystem (Reif et al., 2024).

Der fehlende Fokus auf langfristige Investitionen wie z. B. Digitalisierung aber auch Prävention ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass spätestens nach der Einführung des Risikostrukturausgleichs zwischen den Krankenkassen 1994 langfristig höhere Kosten durch ausbleibende Innovationen auf das Gesamtsystem umgelegt werden. Es besteht also auf Seiten der Kassen kein Anreiz, Kosten zu sparen. Ein Beispiel für so entgangene Innovationen sind patientenzentrierte digitale Gesundheitsanwendungen. Seit 25 Jahren können einzelne Krankenkassen sogenannte „Selektivverträge“ mit Leistungserbringern abschließen. Teilweise wurden diese Verträge zwar genutzt, um digitale Gesundheitslösungen für die Versicherten verfügbar zu machen, allerdings war die Breite des Angebots gering. Die Krankenkassen haben offensichtlich keinen Mehrwert in einem größeren Angebot solcher Leistungen gesehen. Der Gesetzgeber hat daraufhin 2019 mit den Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGAs) einen Weg geschaffen, mit dem Anbieter von solchen Gesundheitslösungen nach einem strukturierten Verfahren von allen Krankenkassen vergütet werden müssen. Dieses Verfahren war weltweit einmalig (Gerke et al., 2020) und ist inzwischen Vorbild für ähnliche Erstattungswege zum Beispiel in Frankreich oder Belgien geworden.

Im funktionierenden Wettbewerb zwischen den Krankenkassen hätte es ein solches neues Vergütungsverfahren allerdings nicht gebraucht. Mit den richtigen wirtschaftlichen Anreizen würden Krankenkassen im Wettbewerb nach den besten Investitionen in das Gesundheitssystem suchen. Damit solche wettbewerblichen Anreize wirken können, muss der Zuweisungsmechanismus im Risikostrukturausgleich zwischen den Krankenkassen allerdings langfristiger ausgestaltet sein, wie wir aus ökonomischer Sicht in Reif et al. (2025) ausführlich erläutern.

Wenn aus der Selbstverwaltung im Gesundheitssystem zu wenige Innovationsimpulse kommen, sind regulatorische Maßnahmen wie die Einführung der DiGA-Vergütung oder die Vorgabe zur Datenaufbereitung und Datenbereitstellung im Rahmen des EHDS wichtige Impulsgeber. Damit die digitale Transformation im Gesundheitswesen schneller gelingt, müssen aber die wirtschaftlichen Anreize so gesetzt werden, dass sich langfristige Investitionen im Gesundheitswesen lohnen.

Dieser Standpunkt erschien zuerst als Zeitgespräch beim Wirtschaftsdienst.