Hat Deutschland ein Armutsproblem? - "Niemand ist wirklich von absoluter Armut in seiner Existenz bedroht"

Nachgefragt

Scheinbar geht die europäische Staatsschuldenkrise spurlos an Deutschland vorüber. Die Wirtschaft profitiert von einem schwachen Euro, die Arbeitslosigkeit sinkt und der Bundeshaushalt schreibt eine schwarze Null. Mitten in dieses vermeintliche ökonomische Idyll platzt die alarmierende Meldung: 12,5 Millionen Menschen in der Bundesrepublik sind von Armut betroffen - und damit mehr als je zuvor. Verarmt Deutschland im internationalen Vergleich? ZEW-Finanzwissenschaftler Andreas Peichl betont, dass Armut ein relatives Phänomen ist - und Informationen über die Ränder der Einkommensverteilung immer relativ ungenau sind.

Deutschland gilt als eines der reichsten Länder der Welt. Dennoch warnen Befunde: Die Armutsquote sei mit derzeit 15,5 Prozent auf ein Allzeithoch gestiegen. Wie arm sind wir?

Niemand in Deutschland ist wirklich von absoluter Armut in seiner Existenz bedroht. Armut hierzulande wird üblicherweise dadurch quantifiziert, dass jemand über ein Einkommen von unter 60 Prozent des Medianeinkommens verfügt. Eine statistisch bestimmte Armutsquote von 15,5 Prozent ist nur eine von mehreren Schätzungen. In einem aktuellen Gutachten kommen wir auf Basis des sozio-ökonomischen Panels auf eine Armutsquote von 14,3 Prozent für das Jahr 2012. Zudem ist die Quote persistenter Armut – sprich die Quote derjenigen Personen, die in mehreren aufeinanderfolgenden Jahren von Armut betroffen sind – deutlich zurückgegangen. 2012 lebten in Deutschland 2,3 Prozent aller Personen in Privathaushalten in drei der vier Jahre davor unterhalb der Armutsschwelle. 84 Prozent aller Personen, die 2012 als "arm" galten, haben also in den vorherigen Jahren noch oberhalb der Armutsschwelle gelebt. Umgekehrt sind viele, die früher unter Armut gelitten haben, aus der Armut herausgekommen. Es gibt daher eine größere Mobilität aus der Armut heraus, aber umgekehrt natürlich auch in diese herein.

Beklagt wird allerdings, dass es trotz steigender Beschäftigung nicht weniger mittellose Menschen gibt. Haben sich Arbeitslosen- und Armutsquote entkoppelt?

Arbeitslosigkeit und Armut sind nach wie vor eng miteinander verwoben: Die Armutsquote von Arbeitslosen liegt deutlich über der Quote jeder anderen Bevölkerungsschicht. Über 70 Prozent aller Personen in Haushalten, in denen sämtliche erwerbsfähigen Personen arbeitslos sind, sind armutsgefährdet. Allerdings ist die Arbeitslosenrate in Deutschland seit 2005 stark zurückgegangen, während die Armutsquote relativ konstant geblieben ist. Ein Grund hierfür ist die Tatsache, dass viele vormals Arbeitslose in Minijobs oder anderen geringfügigen Beschäftigungsformen unterkommen. Es ist eine politische Entscheidung, ob Menschen eher in solchen Beschäftigungsformen arbeiten sollen, als vollständig auf Unterstützung angewiesen zu sein. Auch falls der Job alleine nicht das Existenzminimum sichert und der Staat teilweise die Haushalte weiterhin unterstützt.

Gefühlt konzentriert sich immer mehr Kapital in den Händen weniger, während die deutsche Volkswirtschaft nicht schnell genug wächst, als dass jeder davon profitieren könnte.

Prinzipiell sind Vermögen in Deutschland wesentlich ungleicher verteilt als Einkommen. Während 2012 die Bestverdienenden zehn Prozent der Bevölkerung das 1,9-fache Nettoeinkommen der ärmsten 50 Prozent verdienten, betrug dieser Quotient bezogen auf das Vermögen 10,6 – eine Kennzahl, die seit 2003 um 23 Prozent gestiegen ist. Hatten die ärmsten 50 Prozent der Bevölkerung 2003 einen Anteil von 2,5 Prozenz am Gesamtvermögen, waren es im Jahr 2013 nur noch ein Prozent. Gleichzeitig sind immer mehr Haushalte verschuldet oder vermögenslos. Der Anteil am Gesamtvermögen der reichsten zehn Prozent ist von 49 Prozent auf 52 Prozent gestiegen. Die Wahrnehmung, dass sich das Vermögen stärker konzentriert, ist also richtig.

In vielen deutschen Großstädten sind die Lebenshaltungskosten enorm, während sich das mittlere Nettoeinkommen je nach Bundesland unterscheidet. Muss neu umverteilt werden?

Das mittlere Nettoeinkommen unterscheidet sich zwischen Ost- und Westdeutschland um mehr als 4.500 Euro, das Medianeinkommen um 3.000 Euro pro Jahr. Mit 20,5 Prozent ist die Armutsgefährdungsquote im Osten deutlich höher als im Westen, wo sie bei 12,7 Prozent liegt. Aber das ist nicht nur eine Ost-West-Frage. Auch zwischen einzelnen Bundesländern gibt es starke Unterschiede: Während etwa in Bayern 4,2 Prozent der Bevölkerung Sozialleistungen und Arbeitslosengeld beziehen, sind es in Bremen mehr als 18 Prozent und in Berlin sogar 20,7 Prozent. Mit dem mittleren Nettoeinkommen in den Bundesländern verhält es sich ähnlich. Diese Entwicklungen sind jedoch nicht neu. Im internationalen Vergleich steht Deutschland bei der Varianz der Lebenshaltungskosten nicht so schlecht da.

Wie steht Deutschland gemessen an seinen staatlichen Sozialausgaben im internationalen Vergleich da?

Der deutsche Sozialstaat braucht keinen Vergleich zu scheuen – insbesondere nicht global. Natürlich gibt es einige nordeuropäische Länder, in denen einzelne Leistungen generöser ausfallen, aber alles in allem geht es uns sehr gut. Die Hauptprobleme sind meines Erachtens noch immer die Langzeitarbeitslosigkeit und die Chancengleichheit. Denn durch Teilhabe am Arbeitsmarkt sinkt das Armutsrisiko immens. Hier gilt es entscheidende Weichen für die Zukunft zu stellen.

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