Wie viel Integration kann sich Europa noch leisten? - "Die Aufnahme ärmerer Länder zwingt die EU dazu, den Haushalt zu überdenken"

Nachgefragt

Der europäische Integrationsprozess stockt. Im Wartezimmer der EU gelten die Balkanstaaten Serbien, Montenegro, die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien, Bosnien und Herzegowina, Albanien sowie das Kosovo als relativ schwache Volkswirtschaften. Überhebt sich die Union mit der Aufnahme neuer Mitglieder? ZEW-Finanzwissenschaftler Friedrich Heinemann spricht über die Erweiterungsfähigkeit der EU – und sieht gerade in der Aufnahme ärmerer Länder eine Gelegenheit für überfällige Reformen auf europäischer Ebene.

PD Dr. Friedrich Heinemann ist Leiter des Forschungsbereichs „Unternehmensbesteuerung und Öffentliche Finanzwirtschaft“ am ZEW. Darüber hinaus lehrt er Volkswirtschaftslehre an der Universität Heidelberg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der empirischen Finanzwissenschaften. Der Ökonom untersucht ferner Fragestellungen des Fiskalwettbewerbs und Föderalismus in Europa. Auchdie Determinanten der Reformfähigkeit von Staaten und Gesellschaften zählen zu seinen Forschungsgebieten.

Es gibt bereits Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen mit den Beitrittskandidaten, die zollfreien Handel ermöglichen. Kann der Binnenmarkt überhaupt noch von einer fortschreitenden Integration profitieren?

Ja. Der Binnenmarkt ist weit mehr als eine Zollunion. Er umfasst eine weitgehende Mobilität von Arbeit, Finanzkapital, Unternehmen, Gütern und Dienstleistungen. Die Hindernisse, die dabei durch EU-Recht weggeräumt werden, gehen weit über die Möglichkeiten von Assoziierungsabkommen hinaus. Richtig ist aber auch: Die zu erwartenden Wohlfahrtsgewinne sind für die kleinen Neumitglieder potenziell viel höher als für die Altmitglieder, aus deren Perspektive die Aufnahme weiterer Balkanstaaten nur eine geringfügige Vergrößerung des Binnenmarktes darstellt. Die wirkliche Musik spielt für die Altmitglieder in einer Ausweitung des europäischen Binnenmarktes über den Atlantik – innerhalb einer transatlantischen Freihandelszone.

Der Beitritt zur Eurozone wäre der nächste, logische Schritt für ein Land, das sich erfolgreich mit mobilen Waren, Dienstleistungen, Kapital und Arbeitskräften behauptet. Welche Perspektive haben die Balkanstaaten hier?

Die Erfahrungen der Euro-Verschuldungs- und Vertrauenskrise dürften auf absehbare Zeit zu einer sehr hohen Vorsicht in der Erweiterung der Eurozone führen. Der Glaube, dass kleine Euro-Mitglieder keine Probleme bereiten, ist mit den Beispielfällen Griechenland oder Zypern eindrucksvoll widerlegt worden. Von daher wird eine sehr lange Zeit zwischen der Aufnahme von weiteren Balkanstaaten in die EU und deren Aufnahme in den Euro verstreichen. Dies gilt umso mehr, als der Euro oftmals ohnehin schon als wichtige Parallelwährung fungiert.

Im vergangenen Jahr kamen auf die EU-Mitgliedstaaten Nachzahlungen in Milliardenhöhe zu, um den europäischen Haushalt abzusichern. Reißen finanzschwache Neuzugänge womöglich zusätzliche Löcher in den Etat der Union?

Im Hinblick auf die Integration vergleichsweiser armer Staaten mit einem relativ hohen Agraranteil rächt sich die problematische Ausgabenstruktur des EU-Budgets. Zwei Drittel der Ausgaben entfallen auf die Gemeinsame Agrarpolitik und die Hilfen für arme Regionen und Mitgliedstaaten. Auch die Balkanstaaten werden von diesen Ausgaben in besonderer Weise profitieren. Allerdings sollte man die Finanzlasten auch nicht übertreiben. Schon bei der EU-Osterweiterung hat man lange Übergangsfristen und Transfer-Obergrenzen eingesetzt, um die Finanzierbarkeit zu sichern. Zudem können kleine EU-Staaten mit geringem Sozialprodukt nur verhältnismäßig geringe Transfers absorbieren. Schließlich schadet es vielleicht gar nicht, wenn die Aufnahme weiterer ärmerer Länder die EU dazu zwingt, ihr ohnehin äußerst umstrittenes finanzielles Engagement in der Gemeinsamen Agrarpolitik zu überdenken und weiter  zurückzufahren.

Die Aufnahme ärmerer Länder wäre also ein willkommener Reformimpuls für ureigene Politikbereiche der EU?

Ja, das gilt ganz gewiss in Bezug auf den EU-Haushalt. Die Aufnahme ärmerer Länder zwingt die Union dazu, die Aufgaben auszuweiten, die wirklich einen europäischen Mehrwert schaffen. Der europäische Haushalt sollte endlich konsequenter Dinge wie europäische Außen-, Infrastruktur- und Technologiepolitik finanzieren, nicht aber die Lieblings-Projekte der Politiker in ihren Heimat-Wahlkreisen.

Was muss die EU ihrerseits tun, um die geplante Erweiterung zu erleichtern?

Der Reformvertrag von Lissabon hat etwa mit dem Übergang zur doppelten Mehrheit im Rat bereits einen fairen Interessenausgleich zwischen kleinen und großen Staaten gebracht. Weitere institutionelle Reformen wie eine Verkleinerung des ohnehin bereits viel zu großen Europäischen Parlaments oder die Abkehr vom Prinzip „ein Land – ein Kommissar“ wären aber wünschenswert, um die Entscheidungsfähigkeit und administrative Effizienz einer EU von über 30 Staaten zu sichern. Die größte Herausforderung dürfte aber sein, den Bürgerinnen und Bürgern in den Altmitgliedstaaten glaubwürdig zu vermitteln, dass eine weitere Erweiterung mehr  Chancen als Risiken bringt.