ZEW Wirtschaftsforum 2015 offenbart Baustellen der Digitalisierung

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Die Welt digitalisiert sich immer mehr, Industrie 4.0 ist das Mantra der Stunde an den globalen Wirtschaftsstandorten – und die Erwartungen sind hoch. Unternehmen und Politik versprechen sich gleichermaßen Gewinne, Wohlfahrtssteigerung und Produktivitätsschübe von der Verzahnung klassischer Wertschöpfungsketten mit hochmodernen Informationstechnologien. Doch: Chancen, Risiken und Herausforderungen der vielbeschworenen vierten industriellen Revolution stehen einander in nichts nach, wie das diesjährige ZEW-Wirtschaftsforum des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung am 11. Juni zeigte. Unter der Maxime "Europa im Digitalen Wettbewerb" wurde während der Veranstaltung mit rund 220 Gästen deutlich: Es gibt noch einige Baustellen auf dem Weg der Wirtschaft in die 4.0-Zukunft, so etwa die Ideen eines paneuropäischen digitalen Binnenmarktes, für die EU-Digitalkommissar Günther H. Oettinger in seinem Festvortrag warb.

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An welchen Stellschrauben es im Zuge von Digitalisierung und Industrie 4.0 konkret zu drehen gilt, veranschaulichte Prof. Dr. Irene Bertschek, Leiterin des ZEW-Forschungsbereichs "Informations- und Kommunikationstechnologien" (IKT), in ihrer Einführung zum ZEW-Wirtschaftsforum. Die Relevanz der IKT-Branche für den Standort Deutschland ist demnach nicht mehr von der Hand zu weisen: 4,7 Prozent oder rund 88 Milliarden Euro trug die IKT-Branche im Jahr 2013 zur Bruttowertschöpfung der gewerblichen Wirtschaft bei – und damit so viel wie der deutsche Automobilbau.

"Die IKT-Branche ist Impulsgeber für Innovationen", betonte Bertschek. Mit anderen Worten: IKT befähigen Anwender zu neuen und verbesserten Produkten und Diensten. Das wird auch der deutschen Wirtschaft zunehmend klar. Ebenso sei das Thema auf politischer Ebene angekommen. Offene Baustellen seien jetzt nicht nur IT-Sicherheit und der Ausbau der Breitbandnetze, sondern auch EU-weite technische Standards zur Datensicherheit. Der EU-Kommissar für Digitale Wirtschaft und Gesellschaft, Günther H. Oettinger, schlug eben in diese Kerbe.

"Europas Digitale Zukunft", so der Titel seines Festvortrags, liegt laut dem früheren Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg vor allem in einer paneuropäischen Strategie für einen gemeinsamen EU-Digitalbinnenmarkt. Oettinger warb offensiv dafür: "Nur ein einheitliches europäisches Datenschutzrecht kann die Wertschöpfungsketten garantieren." Hätte die EU-Kommission ein solches juristisches Instrument zur Hand, hätte Europa mehr Macht, etwa im Vergleich zu seiner US-amerikanischen Konkurrenz. Sein Beispiel: Die fünf großen Konzerne aus Übersee Google, Apple, Microsoft, Facebook und Amazon hätten zusammen einen Börsenwert, der doppelt so hoch sei wie der der DAX-30, also der 30 größten und umsatzstärksten deutschen Traditionsunternehmen wie Siemens, BASF oder Daimler.

Auf dem Weg zu mehr Wettbewerbsfähigkeit "wird die Infrastruktur entscheidend sein", so Oettinger. Praktisch heißt das: "Wir müssen mehr in moderne Netze investieren." Wirtschaftsräume machten längst nicht mehr an physischen Landesgrenzen halt. Eine paneuropäische Strategie zur Digitalisierung sei daher nur im Team der EU-Mitgliedstaaten möglich. Dabei müsse auch auf eine gemeinsame Datensicherheitskultur geachtet werden. "Bei der Datensicherheit sind wir bislang zu unsensibel und fahrlässig unterwegs", sagte Oettinger. Es gehe daher nicht nur um Dienste, die das Leben erleichterten, sondern gleichzeitig auch um Dienste, die die Sicherheit erhöhten. Dabei darf sich Europa seiner Ansicht nach jetzt nicht zurücklehnen: "Die digitale Welt erfordert schnelle Entscheidungen."

Dass Eile für den Standort Europa geboten ist im Wettlauf mit Ländern wie den USA, China, Südkorea und Japan, hob auch der Leiter des Fraunhofer Instituts für Produktionstechnik und Automatisierung in Stuttgart, Prof. Dr.-Ing. Thomas Bauernhansl, in seiner Rede hervor: "Wir dürfen den internationalen Wettbewerb keinesfalls unterschätzen." Allein der Internet-Konzern Google investiere jährlich so viel in Forschung und Entwicklung wie die gesamte deutsche Maschinenbauindustrie.

Die Zeiten der Netzneutralität seien endgültig vorbei, führte Bauernhansl weiter aus. Alte IT-Architekturen würden sich mehr und mehr auflösen, ein Paradigmenwechsel in der IKT-Branche stehe an. "Die Entwicklung der vierten industriellen Revolution von morgen geht in Richtung Echtzeit-Information, Dezentralisierung und offene Kommunikation." Als Beispiel nannte der Ingenieur fahrerlose Transportsysteme, die bereits jetzt getestet würden und selbstständig von A nach B finden, weil sie permanent ihre unmittelbare Umgebung kartografieren, über Algorithmen navigieren und sich per Cloud miteinander vernetzen lassen. Der vielversprechende Erfolgsfaktor für die Industrie dabei sei maximale Kundennähe bei höchster Produktivität. "Der größte Risikofaktor", so Bauernhansl, "ist nicht die Technik, sondern der Mensch".

Wo die digitale Revolution bis zu diesem Punkt des ZEW-Wirtschaftsforums 2015 hauptsächlich im Großen diskutiert wurde, hakten Dr. Susanne Steffes, stellvertretende Leiterin des ZEW-Forschungsbereichs "Arbeitsmärkte, Personalmanagement und Soziale Sicherung" und Steffen Viete aus dem ZEW-Forschungsbereich IKT ein. Die Präsentation der beiden Wissenschaftler zur "Allgegenwart der Arbeit" beziehungsweise zu "Chancen und Herausforderungen der vernetzten Arbeitswelt" beleuchtete vor allem die individuelle Ebene und dabei die räumliche sowie zeitliche Flexibilität von Beschäftigten, etwa durch Modelle wie Home Office und Telearbeit. Das Ergebnis: Nicht alle Individuen und Unternehmen sind in gleicher Weise von der Digitalisierung betroffen. Arbeiten von zu Hause ist in erster Linie unter höher Qualifizierten und Führungskräften weit verbreitet, während die intensive Nutzung mobiler IKT und flexibler Arbeitsformen im Dienstleistungssektor angesiedelt ist.

Finaler Höhepunkt des ZEW-Wirtschaftsforums 2015 war die Podiumsdiskussion um "Industrie 4.0: Zukunft der Wirtschaft und Ende der Arbeit?" ZEW-Forschungsbereichsleiterin Prof. Dr. Irene Bertschek debattierte dabei mit Prof. Dr. Martin Przewloka, Senior Vice President des Softwareherstellers SAP SE in Walldorf sowie globaler Bereichs- und Programmleiter des firmeneigenen Innovation Center, Dr. Peter Adolphs, Geschäftsführer "Entwicklung & Marketing" des Automations- und Sensorik-Unternehmens Pepperl+Fuchs in Mannheim sowie Gerhard Steiger, Vorsitzender des Geschäftsbereichs "Chassis Systems Control" des Automobilzulieferers Robert Bosch GmbH in Gerlingen bei Stuttgart.

Trotz einiger Reibungspunkte war der einhellige Tenor, dass Datenschutz ernst genommen werden muss, Deutschland bei der Expertise ausgefeilter Algorithmen aufzuholen hat und dass mehr gemeinschaftliches Handeln, weniger Kleinstaaterei sowie Schnelligkeit gefragt sind. Das Publikum bereicherte die Diskussion zudem um die Punkte Umgang mit Elektrosmog, eventuelle gesundheitliche Beeinträchtigungen durch Strahlung und rechtlichen Fragen etwa beim vollautomatisierten Fahren.