Die Zukunft ist offen und ungewiss. Dies scheint der Philosophie zu banal zu sein, als dass sie sich damit groß befasst. Gleichwohl haben wir es gemäß Immanuel Kant bei Menschen mit frei handelnden Wesen zu tun, denen sich zwar vorher diktieren lässt, was sie tun sollen, aber nicht vorhersagen lässt, was sie tun werden (in: "Der Streit der Fakultäten", 1794, 2. Abschnitt; das Zitat verdanke ich Otfried Höffe). Kurzum: Die Zukunft ist nicht vorhersehbar. Natürlich gibt es Naturgesetze, wie etwa die Schwerkraft. Wer einen Ball wirft, kann ziemlich sicher sein, dass dieser zu Boden fällt, es sei denn, der Gegenspieler fängt ihn vorher auf. Volleyballspieler können davon ein Lied singen.

Prognostiker sollen mithin etwas Unmögliches leisten, frei nach dem Motto: "Unmögliches wird sofort erledigt, Wunder dauern etwas länger". Paradoxerweise wissen viele Menschen, dass die Zukunft nicht vorhersehbar ist, aber sie konsultieren Prognosen am laufenden Band: Wetterprognosen, Prognosen über den Krankheitsverlauf, Stauprognosen und Konjunkturprognosen. Gar nicht erst zu reden von Mutmaßungen sehr unterschiedlicher Provenienz, angefangen seinerzeit beim Orakel von Delphi über heutzutage Horoskope in Illustrierten bis hin zur Wahrsagerin im Internet. Bei einschlägig bekannten Zukunftsforschern erfreuen sich Prognosen über das, was in zehn oder 20 Jahren sein wird, besonderer Beliebtheit. Denn der Prognosezeitraum ist kurz genug, um das Interesse der Leute zu wecken, jedoch weit genug, als dass sich dann noch jemand der seinerzeitigen (Fehl-)Prognosen erinnert.

Prognosen auf wissenschaftlicher Grundlage behelfen sich angesichts solcher Dilemmata damit, dass sie möglichen künftigen Ereignissen Wahrscheinlichkeiten zuordnen, graphisch veranschaulicht mit Hilfe von Konfidenzbändern. Das Fernsehen zeigt ein solches, schraffiert gezeichnetes Band für die Temperaturentwicklung, welches umso weiter nach außen gespreizt ist, je ferner der Prognosezeitpunkt liegt. Ähnlich gehen Konjunkturprognosen vor. So nützlich diese Bänder sind, so stößt ihre Aussagekraft recht schnell an Grenzen. Eine Prognose, dass die Veränderungsrate des realen Bruttoinlandsprodukts im nächsten Jahr irgendwo zwischen null und fünf Prozent liegen wird, grenzt hinsichtlich des Informationswertes an Lächerlichkeit, obwohl statistisch vielleicht belegbar. Die Angabe von Bandbreiten ist bei Journalisten ohnehin nicht sehr beliebt und führt mitunter zu Verschlimmbesserungen, indem sie aus "zwischen 1.5 und 2.0 v.H." dann 1.75 v.H. machen, also eine noch größere Genauigkeit suggerieren als wenn die Prognose 1.8 v.H. gelautet hätte. Noch unbeliebter ist die von Konjunkturprognosen häufig verwendete Angabe 1 ¾ v.H., welche ein Intervall von 1.65 bis 1.84 v.H. angibt. Abgesehen davon, dass sich dies außerhalb der Zunft noch nicht so recht herumgesprochen hat, streikt bei 1 ¾ regelmäßig die Setzerei der Zeitung und es erscheinen wieder die 1.75 v.H.

Prognosen stellen Momentaufnahmen dar, die möglichst alle verfügbaren und als relevant erachteten Informationen verwerten. Neue Informationen führen zu Revisionen der ursprünglichen Prognose, können sie im Extremfall sogar wertlos machen, vor allem wenn es – wie im Fall der jüngsten Finanz und Wirtschaftskrise – an einschlägigen Erfahrungswerten mangelt. Mit Jux und Dollerei hat das nichts zu tun. Davon abgesehen können sich Prognosen, beispielsweise einer vermeintlich bevorstehenden Rezession, entweder selbst bestätigen oder sich selbst widerlegen, falls wirksame Gegenmittel ergriffen werden.

All dies gilt es zu bedenken, wenn in den nächsten Wochen die Herbstwelle von Konjunkturprognosen über das Land rollt. Sie werden als Planungsgrundlage benötigt, denn die wenigsten Unternehmen und öffentlichen Haushalte können von einem Tag auf den anderen vor sich hin werkeln. Diese Prognosen verdienen angesichts des immensen wissenschaftlichen Aufwands Respekt. Aber für bare Münze darf man sie nicht nehmen, denn sie leisten eigentlich etwas Unmögliches, vielleicht sogar Wundersames. Aber das hatten wir ja schon.