ZEW-Präsident Wolfgang Franz zur Tarifpluralität

Standpunkt

Die Auseinandersetzungen in der Tariflohnpolitik der vergangenen Wochen und Monate geben Veranlassung, an die Verantwortung der Tarifvertragsparteien für einen weiteren Beschäftigungsaufbau zu erinnern. Nicht nur droht das Erreichte wieder verspielt zu werden, sondern einige Vorkommnisse beleuchten schlaglichtartig Defizite im institutionellen Regelwerk auf dem Arbeitsmarkt.

Das Erreichte besteht in einer markanten Zunahme der Anzahl der Erwerbstätigen, insbesondere der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. An dieser höchst erfreulichen Entwicklung hat die Tariflohnpolitik ihren Anteil, weil sie in den vergangenen Jahren insgesamt betrachtet einen moderaten Kurs eingeschlagen, das heißt, die Verteilungsspielräume nicht ausgeschöpft hat. Im Gegensatz zu anderslautenden Behauptungen zahlt sich tariflohnpolitische Vernunft mittelfristig eben doch aus. Die Arbeitslosen erhalten Chancen auf neue, wettbewerbsfähige Arbeitsplätze, die der bereits Beschäftigten werden sicherer.
Angesichts von immer noch über drei Millionen Arbeitslosen und um die Beschäftigungsgewinne nicht wieder aufs Spiel zu setzten, muss Tariflohnpolitische Zurückhaltung weiterhin oberstes Gebot bleiben. Konkret bedeutet dies, dass die Tariflohnabschlüsse jeder Branche unterhalb der branchenspezifischen Verteilungsspielräume bleiben müssen. Die Höhe dieser Verteilungsspielräume auszuloten ist Aufgabe der Tarifvertragsparteien. Wie sie dabei vorgehen können, verdeutlicht die gesamtwirtschaftliche Sichtweise. Dort setzt sich der Verteilungsspielraum aus der um Beschäftigungsschwankungen bereinigten Fortschrittsrate der Arbeitsproduktivität – genauer: der Grenzproduktivität der Arbeit– und der Preisentwicklung des Bruttoinlandsprodukts zusammen. Prognosen von Wirtschaftsforschungsinstituten lassen eine Höhe dieses gesamtwirtschaftlichen Verteilungsspielraums für nächstes Jahr in der Größenordnung von 2,5 v. H. vermuten. Davon kann oder muss in jeder Branche nach oben beziehungsweise unten abgewichen werden, je nach den branchenspezifischen Gegebenheiten. Der so berechnete Verteilungsspielraum sollte um eines weiteren Beschäftigungsaufbaus willen nicht ausgeschöpft werden. Schon gar nicht dürfen Energie- und Nahrungsmittelpreissteigerungen über höhere Lohnsteigerungen wieder "reingeholt" werden. Das geht mit Sicherheit schief, denn so kommen beide Übel ins Haus: wieder höhere Arbeitslosigkeit und steigende Inflationsraten. Diese bittere Lektion haben uns die siebziger Jahre bei der ersten Erdölkrise erteilt.
Der Streik der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di bei der Deutschen Lufthansa AG zeigt einmal mehr ein gravierendes Defizit bei der hiesigen Unternehmensmitbestimmung auf. Der Vorstand von ver.di ist gleichzeitig stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender der Lufthansa, bestreikt damit "sein" Unternehmen und verletzt mithin gröblich seine Pflichten als Aufsichtsratsmitglied – und dies dergestalt bekanntlich nicht zum ersten Mal. Man darf gespannt sein, ob die Aktionäre der Lufthansa diesmal ernstere Konsequenzen ziehen, als ihm auf der Hauptversammlung lediglich die Entlastung zu verweigern.
Das Beispiel der Lufthansa verdeutlicht konkret die Begleiterscheinungen einer Tarifpluralität. Der Pilotenstreik ist noch nicht ausgestanden, schon streikt das Bodenpersonal und die Gewerkschaft der Flugbegleiter (UFO) kündigt weitere Auseinandersetzungen mit dem merkwürdigen Argument an, ohne Flugbegleiter dürften die Flugzeuge nicht fliegen. Wenn das Schule macht, können sich die Unternehmen hierzulande auf permanente Tarifauseinandersetzungen gefasst machen, wie seinerzeit im Vereinigten Königreich. Offenkundig sind Tarifeinheit und Flächentarifvertrag doch nicht so ineffizient wie von den Befürwortern einer rein betrieblichen Lohnbildung mitunter dargestellt.