ZEW-Präsident Wolfgang Franz zum Thema "Potenzial"

Standpunkt

Stößt der hiesige Konjunkturaufschwung allmählich an Kapazitätsgrenzen? Auskunft hierüber könnte die Entwicklung des Produktionspotenzials geben, das in den vergangenen Wochen in der Presse intensiv diskutiert wurde. Was ist mit diesem Begriff gemeint, wieso ist diese Größe so wichtig, und wie wird sie gemessen?

Unter dem Produktionspotenzial einer Volkswirtschaft versteht man die Höhe des realen Bruttoinlandsprodukts, das bei einer normalen oder – alternativ – maximal möglichen Auslastung der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital erzielt werden kann. Es beschreibt damit die Möglichkeiten im Hinblick auf die Produktion von Gütern und Dienstleistungen, die einer Volkswirtschaft zur Verfügung stehen. Ausgedehnt werden kann das Produktionspotenzial mit Hilfe von Human- und achkapitalinvestitionen, einer Steigerung des Arbeitseinsatzes, mithin durch eine zunehmende Erwerbstätigkeit und einen Anstieg der Arbeitsstunden je Beschäftigten, und durch verbesserte Produktionsverfahren aufgrund eines technischen Fortschritts. Damit verschafft sich eine Volkswirtschaft zusätzliche Wachstumsperspektiven, was die wirtschaftspolitische Relevanz des Produktionspotenzials erklärt.

Liegt das tatsächliche reale Bruttoinlandsprodukt unterhalb seines Potenzialwertes, sind einige oder sämtliche Kapazitäten nicht ausgelastet. Dann vergibt eine Volkswirtschaft mögliche Wachstumschancen. Die entsprechende Kennziffer ist der Kapazitätsauslastungsgrad, das prozentuale Verhältnis von tatsächlichem und möglichem realem Bruttoinlandsprodukt. Liegt dem Produktionspotenzial das Messkonzept einer maximal möglichen Produktion von Gütern und Dienstleistungen zugrunde, dann kann der Kapazitätsauslastungsgrad höchstens den Wert 100 v.H. erreichen. Andernfalls, wenn das Produktionspotenzial die mögliche Produktion bei einer normalen Auslastung beschreibt, kann der beobachtete Kapazitätsauslastungsgrad oberhalb der 100 v.H.-Marke liegen. Bildlich gesprochen laufen dann die Maschinen heiß und die Beschäftigten arbeiten bis zur Erschöpfung.

Die beiden Begriffe Potenzial und Kapazitätsauslastungsgrad liefern eine griffige Unterscheidung zwischen Wachstum und Konjunktur. Wachstum ist die Entwicklung des Produktionspotenzials, Konjunkturschwankungen sind Veränderungen des Kapazitätsauslastungsgrads. Das Wachstum wird in erster Linie von angebotsseitigen Faktoren angetrieben. Dazu gehören vermehrte Bildungsanstrengungen und ein leistungsfähigeres Bildungssystem, ein beschleunigter technischer Fortschritt, induziert etwa durch höhere Forschungsausgaben, sowie effizientere Rahmenbedingungen in Form einer flexibleren Arbeitsmarktverfassung und einer international wettbewerbsfähigeren Unternehmenssteuerbelastung. Die volkswirtschaftliche Nachfrageseite bestimmt in erster Linie die Höhe des Kapazitätsauslastungsgrads.

Das Produktionspotenzial ist jedoch statistisch nicht beobachtbar, sondern muss geschätzt werden. Damit beginnen die Schwierigkeiten, denn die beiden meistens benutzten Schätzverfahren sind nota bene vergangenheitsorientiert. Die eine Methode legt – vereinfacht dargestellt – eine Trendlinie durch die bisherige zeitliche Entwicklung des tatsächlichen realen Bruttoinlandsprodukts und liefert damit ein Potenzial im Sinne eines Normalwerts. Man kann diese Linie so weit nach oben verschieben, bis sie durch die Hochpunkte der genannten Zeitreihe verläuft; dies ergibt ein Potenzial im Sinne einer maximal möglichen Produktion. Das andere Verfahren verwendet eine gesamtwirtschaftliche Produktionsbeziehung – wiederum auf der Basis von Vergangenheitswerten geschätzt – und setzt die Potenzialwerte für Arbeit und Kapital ein. Damit ist es zwar eher möglich, den Einfluss jüngerer wirtschaftspolitischer Reformen etwa auf dem Arbeitsmarkt zu erfassen. Jedoch unterliegen die Potenzialwerte für den Arbeitseinsatz arbiträren Entscheidungen: Wie viele Arbeitslose rechnet man mit welchen Produktivitäten dazu, welche Arbeitszeit soll eingehen? Hier besteht noch beträchtlicher Forschungsbedarf.