ZEW-Präsident Wolfgang Franz zum Thema "Armut"

Standpunkt

Eine neue Studie des Statistischen Bundesamts über Armut und soziale Ausgrenzung bot Armutsfunktionären willkommenen Anlass, erneut den Weg Deutschlands in den Armutsstaat anzuprangern. Die Analyse kommt zu dem Ergebnis, dass im Jahr 2004 in Deutschland 13 v.H. der Bevölkerung arm oder armutsgefährdet sind. Das wären so gesehen etwa 10,6 Millionen Menschen, darunter 1,7 Millionen Kinder unter 16 Jahren.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Unbestritten gibt es in Deutschland Armut in dem Sinn, dass Menschen mit so wenig Geld ihren Lebensunterhalt bestreiten müssen, wovon sich unsereins höchstens ungefähre Vorstellungen machen kann. Solange diese Menschen nicht aus eigener Kraft ihrem Schicksal entrinnen können, haben sie Anspruch auf unsere sozialstaatliche gebotene Hilfe. Dafür existiert hierzulande eine Mindestsicherung, beispielsweise in Form des Arbeitslosengelds II für Erwerbsfähige. Die Gesellschaft, vertreten durch den Gesetzgeber, muss darüber entscheiden, ob diese Fürsorgeleistung lediglich Elementarbedürfnisse befriedigen oder ob sie eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen soll. Aber von dieser Armut, gemessen in absoluten Kategorien, handeln die angeführten Zahlen überhaupt nicht, sondern von einer "relativen Armut". Demnach gilt gemäß internationalen Konventionen als armutsgefährdet, wer weniger als 60 v.H. des mittleren Haushaltseinkommens, korrigiert um die Haushaltsgröße, bezieht ("Äquivalenzeinkommen"). Diese Armutsgefährdungsgrenze lag im Jahr 2004 bei monatlich 856 Euro für einen Alleinstehenden und 1.798 Euro für eine Familie mit zwei Kindern unter 14 Jahren. Die Problematik dieser Definition liegt auf der Hand. Selbst wenn sich alle Einkommen verdoppeln, allemal in realer Betrachtung, änderte sich der Anteil der Armutsgefährdeten nicht – ein offenkundig abwegiges Resultat. Außerdem bleiben selbst genutztes Wohneigentum und Privatrenten bei der Berechnung außer Ansatz. Und – wer hätte das gedacht – die von der Politik für das Jahr 2007 lautstark begrüßten kräftigen Lohnsteigerungen würden gemäß dem Berechnungskonzept der "relativen Armut" zu einem höheren Anteil der Armutsgefährdeten führen. Ein Schuft, wer jetzt daraus für die bevorstehenden Tarifverhandlungen Schlussfolgerungen zieht! Solche Einlassungen empfinden bestimmte Zirkel als lästig und stellen dem stattdessen lieber die Einkommen von Unternehmensführern gegenüber, vorzugsweise wenn diese tatsächliche oder vermeintliche Fehlleistungen erbracht haben. Solches Versagen gibt es durchaus – aber nur in dieser Personengruppe? Was ist mit Spitzeneinkommen unter anderem von Fußballprofis, Leinwandstars oder Bestsellerautoren, vor allem, wenn sich deren Torbilanz beziehungsweise schauspielerische Leistung beziehungsweise das intellektuelle Niveau ihrer Bücher als noch deutlich steigerungsfähig erweist, um es einmal freundlich zu formulieren? Man kann ja zum x-ten Mal eine Debatte über "gerechte Einkommen" anzetteln (bei der aller Erfahrung nach nichts herauskommt), aber wieso werden ausschließlich hohe Managergehälter attackiert? Sind Unternehmensführer Freiwild? Genauso zweifelhaft wie das Vorurteil über den die Armut fördernden Sozialstaat ist das der sozialen Hängematte, in der sich "die" Arbeitslosen ausruhen. Wer arbeiten wolle, der finde auch Arbeit – dieser Aussage stimmten immerhin 63 v.H. aller Personen in einer Befragung der westdeutschen Bevölkerung "etwas" oder "voll" zu. Gewiss: Wie in jeder Personengruppe gibt es unter den Arbeitslosen ebenfalls schwarze Schafe. Aber mindestens ebenso groß ist die Gruppe der Arbeitslosen, die unter ihrem Schicksal leiden, die glücklich über einen Arbeitsplatz wären und dafür erhebliche Suchanstrengungen unternehmen.