ZEW-Präsident Franz über die Lissabon-Strategie der EU

Standpunkt

Der Beitrag findet sich in der aktuellen Ausgabe der ZEWnews Januar/Februar 2005

Lissabon-Strategie

In der öffentlichen Auseinandersetzung des vergangenen Jahres um die Verlängerung der Arbeitszeit spielte ein wichtiger Aspekt so gut wie keine Rolle: die Wachstumsperspektive. Das erstaunt schon deshalb, weil die Europäische Union (EU) in ihrer Lissabon-Erklärung im Jahr 2000 angekündigt hat, die EU solle bis zum Ende des Jahrzehnts zur "dynamischsten und wettbewerbsfähigsten wissensbasierten Region" der Welt werden.


Was das mit einer Arbeitszeitverlängerung zu tun hat? Im Zeitraum der Jahre 1991 bis 2003 belief sich die durchschnittliche jährliche Veränderung der Arbeitsproduktivität in den Vereinigten Staaten auf 1,8 v.H., in Deutschland auf 2,1 v.H. Beide Länder verwendeten ihren Produktivitätsfortschritt jedoch recht unterschiedlich. Während in den Vereinigten Staaten die Realeinkommen pro Kopf jährlich um mehr als 2 v.H. zunahmen (Deutschland: weniger als 1 v.H.), sank in Deutschland die Arbeitszeit je Erwerbstätigen um 0,6 v.H. (Vereinigte Staaten: konstante Arbeitszeit). Auf den Punkt gebracht: Bei in etwa gleicher Produktivitätsentwicklung setzen die Vereinigten Staaten das daraus resultierende Potenzial eher in Einkommen, Deutschland indes in "Freizeitgewinn" um. Letzteres gilt auch für einen großen Teil der EU-Länder.


Dieser Vergleich bedarf jedoch einiger Relativierungen. Die Frage lautet, ob es sich bei der statistisch ausgewiesenen Verringerung der Arbeitszeit tatsächlich um einen gewollten "Freizeitgewinn" handelt. Wenn es sich in der Tat so verhält, steht die Lissabon-Strategie unter keinem guten Stern. Mehr Wachstum erreicht man bei gegebener Produktivitätsentwicklung nicht mit höherem Freizeitkonsum. Keine Frage: Falls ein solcher "Freizeitgewinn" den Präferenzen entspricht, geht das völlig in Ordnung. Aber: Man wird nicht zur dynamischsten und wettbewerbsfähigsten Region der Welt, indem man dem Müßiggang frönt.


Allerdings gibt es plausible Gründe dafür, dass nicht der gesamte Rückgang der Arbeitszeit einem gewollten Freizeitgewinn entspricht. Ein Teil der Arbeitsaktivitäten findet in der Schattenwirtschaft statt, deren Anteil am Bruttoinlandsprodukt in Deutschland mit etwa 16 v.H. rund das Doppelte des Werts in den Vereinigten Staaten beträgt. DesWeiteren mag die hohe Abgabenbelastung auf Arbeitseinkommen den Freizeitkonsum attraktiver erscheinen lassen. So kommt eine neuere Studie des Nobelpreisträgers Edward Prescott zu dem bereits nach eigenem Bekunden erstaunlichen Resultat, der Unterschied zwischen dem weitaus höheren Arbeitsangebot in den Vereinigten Staaten im Vergleich zu Deutschland könne nahezu vollständig auf die Besteuerung zurückgeführt werden. Das mag eine Extremposition darstellen, aber die unlängst in Deutschland zu vernehmende Gegenposition, das Arbeitsangebot habe nichts mit der Abgabenbelastung zu tun, erscheint ebenso fraglich.


Können wir mithin die Lissabon-Strategie vergessen? So schlimm ist es nun auch wieder nicht, denn die Produktivitätsentwicklung stellt keine fest vorgegebene Größe dar, sondern kann gesteigertwerden. Ansatzpunkte für die Wirtschaftspolitik liegen nicht nur in einer Senkung der Abgabenlast, sondern zudem auf dem Gebiet des Bildungswesens, der Innovationspolitik und der Wettbewerbspolitik, beispielsweise mit Hilfe eines Abbaus von Marktzugangsbeschränkungen für Neugründungen.


Darauf hat der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in seinem neuesten Jahresgutachten ebenfalls aufmerksam gemacht. Insoweit es gelingt, die Arbeitsproduktivität zu forcieren, löst sich der Zielkonflikt zwischen Wachstum und Freizeit auf - ganz davon abgesehen, dass viel zu gewinnen wäre, wenn sich die hiesige Arbeitslosigkeit entscheidend verringerte.