ZEW Lunch Debate in Brüssel - Kronzeugen entscheiden den Kampf gegen Kartelle in Europa

ZEW Lunch Debate in Brüssel

Prof. Dr. Kai Hüschelrath durchleuchtet das EU-Kartellrechtsverfahren bei der ZEW Lunch Debate

Die Wettbewerbspolitik hat sich über die Jahre zu einer ureigenen Domäne der Europäischen Kommission entwickelt. Der Kampf gegen Kartelle genießt dabei die höchste Priorität. Schärfste Waffe der Kommission auf diesem Gebiet ist ihr Kronzeugenprogramm. Kartellmitglieder haben dadurch die Möglichkeit, die extrem hohen Geldbußen teilweise oder sogar ganz zu umgehen, also ohne Strafe davonzukommen. Wie wirksam die EU-Instrumente zur Aufdeckung von Kartellen wirklich sind, stand bei der jüngsten ZEW Lunch Debate am 1. Juli 2015 in der Brüsseler Vertretung des Landes Baden-Württemberg bei der EU auf dem Prüfstand.

Prof. Dr. Kai Hüschelrath, Leiter der Forschungsgruppe "Wettbewerb und Regulierung" am Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW), machte in seinem Vortrag zu Beginn der Podiumsdiskussion deutlich, dass sich die Anzahl der Kartelle in den vergangenen Jahren zwar verringert hat, die durchschnittliche Geldbuße für Kartellmitglieder aber größer geworden ist. Gleichzeitig stellte er fest, dass Wiederholungstäter und Rädelsführer aufgrund der Berufungsmöglichkeiten auf europäischer Ebene auch mit deutlich schmäleren Bußgeldern davon kommen können.

Hüschelrath führte aus, dass durch das Aufdecken und harte Bestrafen von Kartellen die Kommission einerseits zwar die Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Wirtschaftsraums erhöht habe und einen Abschreckungseffekt für Unternehmen erzeuge, sich an Kartellen zu beteiligen. Der kriminelle Zusammenschluss von Firmen werde dadurch um einiges unattraktiver. Andererseits sei der Segen der Effektivität aber zugleich auch ein Fluch: Dadurch, dass Unternehmen als Kronzeugen sowie über das Berufungsverfahren ihre Strafe für die Kartellmitgliedschaft senken könnten, werde der erzeugte Abschreckungseffekt wieder abgeschwächt. "Das ist der Kehrseite der Medaille", befand der ZEW-Forschungsgruppenleiter.

Das Kronzeugenprogramm der EU-Kommission - eine Erfolgsgeschichte?

Neben Kai Hüschelrath saßen auf dem Podium Dr. Stephanie Birmanns, Rechtsanwältin für europäisches und deutsches Kartellrecht sowie Fusionskontrollverfahren bei der EU-Kommission in der international tätigen Kanzlei Schilling, Zutt & Anschütz, und Dr. Gerald Miersch, Referatsleiter Kartelle bei der Generaldirektion Wettbewerb der Europäischen Kommission. ZEW-Präsident Prof. Dr. Clemens Fuest übernahm die Moderation der Debatte vor einem ausgewählten Expertenkreis von Mitarbeitern der EU-Kommission, Unternehmensvertretern und Journalisten.

Aus der Praxis mit ihren Klienten brachte Stephanie Birmanns ein, dass die geografische Reichweite von Kartellen ein nicht zu unterschätzender Faktor sei - gerade auch mit Blick auf die Werkzeuge der Kommission gegen illegale Preisabsprachen, Kunden- und Marktaufteilungen. Zum einen gebe es Länder, in denen eine Kronzeugenregelung aufgrund des nationalen Rechtssystems nahezu unmöglich sei. Zum anderen müssten Unternehmen auch immer mit Schadensersatzansprüchen über Ländergrenzen hinweg rechnen. Nichtsdestoweniger zeige sich, dass Unternehmen in Europa noch vor 20 Jahren viel widerwilliger als Kronzeugen gegen mitverschworene Kartellmitglieder an die Kommission herangetreten seien. Das habe sich nun grundlegend geändert.

Als eine Erfolgsgeschichte wertete auch Gerald Miersch das Kronzeugenprogramm seiner Behörde. Bis zu 75 Prozent der Kartellrechtsfälle, die die Kommission erfolgreich abwickle, gingen eben darauf zurück, dass Unternehmen von sich aus ausscherten und auf die Machenschaften ihrer Komplizen aufmerksam machten. Insiderwissen sei die Hauptquelle, aus der sich der Erfolg bei der Kartellbekämpfung speise. Allen voran frühere Mitarbeiter eines Unternehmens spielen demnach bei der Aufdeckung von gesetzwidrigem Marktverhalten eine essentielle Rolle.

Ziehen Kartelle regionale Konsequenzen nach sich?

Das Publikum knüpfte an die Ausführungen der Diskutanten an, wollte wissen: Sind die Bewohner einer bestimmten Region besonders belastet, wenn das Kartell eben dort operiert beziehungsweise dort seinen Sitz hat? Und gibt es vergleichbare Anreize zum Kronzeugenprogramm der Kommission, das auf ganze Unternehmen zugeschnitten ist, für den einzelnen Informanten? Die Debatte auf und mit dem Podium zeigte, dass die europäische Wettbewerbspolitik in ihrer Effizienz Fortschritte macht - aber dennoch weiter über Reformen nachgedacht werden muss.

Bei der Diskussionsreihe ZEW Lunch Debates kommen seit 2014 Experten zusammen, um zur Mittagszeit aktuelle wirtschaftliche Herausforderungen in Europa zu diskutieren. Die regelmäßig in Brüssel stattfindende Veranstaltung bietet Gelegenheit zur kontroversen, offenen und engagierten Debatte.

Nähere Informationen zur Reihe ZEW Lunch Debates sowie die Termine der kommenden Veranstaltungen