Wahlrecht macht Lebensentscheidungen von Frauen emanzipierter

Forschung

ZEW-Studie untersucht Auswirkungen des Frauenwahlrechts in der Schweiz

Frauen, die in einem Umfeld mit Frauenwahlrecht sozialisiert wurden, arbeiten im Durchschnitt häufiger, heiraten seltener und später und haben höhere Bildungsabschlüsse als Frauen, die erst als ältere Erwachsene die Einführung des Wahlrechts für Frauen erlebten.

Politische Gleichberechtigung und selbstbestimmtes Entscheiden über die eigene Lebensführung sind untrennbar miteinander verbunden. Frauen, die in einem Umfeld mit Frauenwahlrecht sozialisiert wurden, arbeiten im Durchschnitt häufiger, heiraten seltener und später und haben höhere Bildungsabschlüsse als Frauen, die erst als ältere Erwachsene die Einführung des Wahlrechts für Frauen erlebten. Sie entscheiden sich demnach eher für Lebenspläne, die ihnen eine größere wirtschaftliche Unabhängigkeit verschaffen. Dies zeigt eine aktuelle Studie des ZEW Mannheim und der Universität Basel am Beispiel der Schweiz, die jüngst in der renommierten, referierten Fachzeitschrift Economic Journal erschienen ist.

Politische Gleichberechtigung von Frauen und Männern war für viele Frauen weltweit eines der zentralen politischen Ziele im 20. Jahrhundert. Der Kampf um das Stimmrecht hatte im 18. Jahrhundert begonnen und dauerte selbst in der westlichen Welt lange an. Rund um den Ersten Weltkrieg führten Länder wie Dänemark (1915), Österreich, Kanada, Deutschland und das Vereinigte Königreich (1918), die Niederlande (1919) und die Vereinigten Staaten (1920) das Stimmrecht für Frauen ein. Andere Länder folgten mit dem Zweiten Weltkrieg, wie etwa Frankreich (1944), Italien (1945) und Belgien (1949). In der Schweiz hingegen dauerte es noch bis zum Jahr 1971, bis alle Frauen das Wahlrecht auf nationaler Ebene erhielten.

Schweizerinnen erhielten erst 1971 das volle Stimmrecht

Diese Tatsache macht die Schweiz zu einem geeigneten Studienobjekt, um zu untersuchen, welche Auswirkungen die Ausweitung des Wahlrechts für Frauen auf individueller Ebene hat. Zwischen 1919 und 1971 waren rund 60 kantonale und zwei eidgenössische Volksabstimmungen nötig, um eine schrittweise Einführung des Frauenstimmrechts zunächst nach und nach auf Kantonsebene sowie zum Schluss auch auf Bundesebene anzustossen. „Durch die Staffelung mit der die Kantone das Frauenwahlrecht einführten, können wir analysieren, wie Frauen derselben Alterskohorte ihre Lebensentscheidungen treffen – je nachdem, wie alt sie waren, als Frauen stimmberechtigt wurden“, erläutert Dr. Michaela Slotwinski, stellvertretende Leiterin der Forschungsgruppe „Ungleichheit und Verteilungspolitik“ am ZEW.

Die Studie basiert auf Daten der Eidgenössischen Volkszählungen, die das Schweizer Bundesamt für Statistik in den Jahren 1980, 1990, 2000 und 2010 durchführte. Sie vergleicht Frauen desselben Jahrgangs, die in derselben Arbeitsmarktregion und Wertegemeinschaft, aber in unterschiedlichen Kantonen wohnen, hinsichtlich ihrer Bildungs- und Erwerbsbiografien sowie hinsichtlich ihrer Familienplanung. Diese Frauen leben in insgesamt 489 Gemeinden in 17 Kantonen. Betrachtet werden ausschließlich Frauen der Jahrgänge 1913 bis 1984. Es werden also gleichermaßen Frauen einbezogen denen erst im fortgeschrittenen Erwachsenenalter das Stimmrecht erteilt wurde, wie auch Frauen, die sich seit ihrer Jugend in einem Umfeld mit Frauenwahlrecht bewegten.

Frauen, die das Wahlrecht früh erleben, entscheiden selbstbestimmt über Arbeit, Bildung und Familie

Die Studie zeigt, dass Schweizer Frauen, die  das Stimmrecht für Frauen später erlebten, systematisch weniger emanzipierte Lebensentscheidungen trafen als diejenigen Frauen, die in einem jüngeren Alter das Wahlrecht inne hatten. „Unsere Schätzungen zeigen, dass Frauen, die zum Zeitpunkt der Einführung des Frauenwahlrechts 35 Jahre oder älter waren, eine bis zu zehn Prozentpunkte geringere Wahrscheinlichkeit haben, einer bezahlten Arbeit nachzugehen, als Frauen, bei denen bereits vor ihrem 17. Lebensjahr das Frauenwahlrecht galt“, so Slotwinski. Für diejenigen, die altersmäßig zwischen diesen beiden Gruppen liegen, ist die Reaktion umso schwächer, je älter die Frau bei der Einführung des Stimmrechts war. Auch erreichen Frauen, die erst nach dem 35. Lebensjahr das Wahlrecht erhielten, seltener einen höheren Bildungsabschluss. Sie haben eine bis zu 15 Prozentpunkte geringere Wahrscheinlichkeit, eine höhere Schulbildung oder gar ein Universitätsstudium abzuschließen.

Die Studienergebnisse zeigen weiterhin, dass Frauen, die erst später im Leben das Stimmrecht für Frauen erhalten, mit höherer Wahrscheinlichkeit Hausfrau sind und heiraten sowie verheiratet bleiben. „Ehescheidungen kommen in dieser Gruppe von Frauen deutlich seltener vor – ohne eigenes Einkommen stünden diese Frauen im Fall einer Scheidung wirtschaftlich schlechter da, als wenn sie einer Erwerbstätigkeit nachgingen“, sagt Slotwinski. Im Einklang dazu steht eine ergänzende Analyse der Umfragedaten, die nahelegt, dass diese Frauen auch eher dazu neigen, in einem jüngeren Alter zu heiraten und mehr Kinder zu bekommen.

Selbstwirksamkeit und wirtschaftliche Unabhängigkeit

Die Studienautoren/-innen erklären diese Ergebnisse folgendermaßen: Frauen, denen formale politische Beteiligungsrechte zugestanden werden und die diese wahrnehmen, erfahren eine größere Selbstwirksamkeit. Diese dürfte sich in emanzipierteren Lebensentscheidungen niederschlagen – Entscheidungen in Richtung wirtschaftlicher Unabhängigkeit, die mitunter von traditionellen Geschlechterrollen abweichen und die, etwa bei einer Ehescheidung, mit dem Risiko sozialer Stigmatisierung verbunden sind. Der emanzipatorische Einfluss auf die Entscheidungen dürfte dabei – wie in der Studie beobachtet – umso geringer sein, je später eine Frau die politische Gleichberechtigung der Frauen erlebte.

Weitere Informationen

Women Leaving the Playpen: The Emancipating Role of Female Suffrage

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