Wie ein deus ex machina mutiert Wachstum allmählich zum Hoffnungsträger des Jahres 2012. Angefeuert durch Wahlversprechen des neuen französischen Staatspräsidenten wird fälschlicherweise ein Gegensatz zu einer Austeritätspolitik aufgebaut, um endlich den (deutschen) "Kaputtsparern" das Handwerk zu legen und auf den Weg des bequemeren Schuldenmachens zurück zu kehren. Kaum Beachtung finden Erfahrungen und Überlegungen hinsichtlich einer Wachstumspolitik, nicht zuletzt auf der angemahnten EU-Ebene, angefangen von der verunglückten Lissabon-Strategie des Jahres 2000 bis hin zu den derzeit diskutierten "Projektbonds" der Europäischen Investitionsbank. Und zu allem Überfluss liegt häufig eine Verwechslung zwischen Wachstum und Konjunktur vor.

Wachstum ist die trendmäßige Entwicklung des realen Bruttoinlandsprodukts bei Normalauslastung der Produktionskapazitäten, kurzum die Veränderung des Produktionspotentials. Dessen Bestimmungsfaktoren sind hinlänglich bekannt: Humankapital, Sachkapital einschließlich der Infrastruktur, technischer Fortschritt sowie ein funktionstüchtiger Ordnungsrahmen etwa im Hinblick auf flexible und offene Arbeits- und Gütermärkte, solide Staatsfinanzen und effiziente Systeme der sozialen Sicherheit. Wer mithin für Wachstumsimpulse im nationalen und europäischen Rahmen plädiert, dessen Maßnahmen müssen an den genannten Wachstumskräften anknüpfen, also unter anderem die nationale Schuldenproblematik in den Griff bekommen.

Konjunkturbewegungen hingegen sind Schwankungen im Auslastungsgrad des Produktionspotenzials, verursacht durch Fluktuationen der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage. In Rezessionszeiten kann die Konjunkturpolitik versuchen, mit Hilfe von Konjunkturprogrammen expansiv gegenzusteuern, obwohl sich diesbezügliche Erfolge in Grenzen halten. Man kann schon froh sein, wenn das Bruttoinlandsprodukt um den Betrag zusätzlicher  Staatsausgaben steigt, technisch gesprochen der Staatsausgabenmultiplikator wenigstens den Wert Eins aufweist. Da die Politik die Kehrseite der Keynes’schen Rezeptur in Form von Budgetüberschüssen in konjunkturell normalen Zeiten meistens ignoriert, lösen Konjunkturprogramme eine steigende Staatsverschuldung aus, deren Abbau regelmäßig am Nimmerleinstag stattfindet. Die Ausflüchte sind immer dieselben: Die Rezession darf nicht verstärkt, ein Aufschwung nicht gefährdet, eine Hochkonjunktur nicht aufs Spiel gesetzt und ein Abschwung nicht beschleunigt werden. Wann denn bitte dann?

Es gehe derzeit nur um ein zeitliches Hinausschieben des Konsolidierungskurses, um nicht in eine konjunkturelle Abwärtsspirale zu geraten. Dieses Argument ist nicht ganz unbegründet und wäre bei einem glaubwürdigen Konsolidierungsversprechen der Problemländer akzeptabel. Jedoch: Die Botschaft hör‘ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube (Goethes Faust). Nur wenn die Problemländer uno actu den Ordnungsrahmen überzeugend reformieren, könnte der Konsolidierungskurs zeitlich etwas gestreckt werden. Als Beispiele für solche Reformen bieten sich eine Flexibilisierung der Güter- und Arbeitsmärkte an, also etwa der Abbau von Zugangsbeschränkungen und anderen Wettbewerbsbehinderungen sowie eines Bürokratiedschungels, und des weiteren restriktivere Systeme der sozialen Sicherheit, welche der Eigeninitiative genügend Raum geben. In Spanien dürfte darüber hinaus die Rekapitalisierung wichtiger Teile des dortigen Finanzsektors im Mittelpunkt der Anstrengungen stehen. Insoweit dies der spanische Staat bewerkstelligt (und nicht die EFSF), steigt damit zwar die staatliche Verschuldung Spaniens. Jedoch gehen davon genauso wie von den genannten anderen Maßnahmen positive Signale an die Finanzmärkte aus, welche eine zeitliche Streckung des Konsolidierungskurses rechtfertigen können.

Wachstumspolitik und Haushaltskonsolidierung müssen sich mithin nicht widersprechen, eher bedingen sie einander. Auf der europäischen Ebene kann neben den Fiskalpakt ein Wachstumspakt treten, der bisherige Subventionen etwa für die Landwirtschaft – horrible dictu: einschließlich der französischen – zumindest teilweise in wachstumsfreundliche Investitionen umwandelt. In Deutschland ist es schwer nachvollziehbar, wenn Teile der Opposition im Deutschen Bundestag von der Bundesregierung einerseits eine konsequentere Befolgung der Regeln für die Schuldenbremse einfordern, sie andererseits aber bezichtigen, sie spare die Problemländer kaputt.