Neuwahlen sind wahrscheinlicher als Steuererhöhungen

Standpunkt

Es ist paradox. Glaubt man den Meinungsforschern, dann sind die schlechten Wahlergebnisse für SPD und Bündnisgrüne unter anderem eine Quittung für die unpopulären Steuererhöhungspläne. Die allenthalben als Wahlsiegerin gefeierte Bundeskanzlerin hat im Wahlkampf versichert, die Steuern seien hoch genug. Trotzdem wird nun über Steuererhöhungen diskutiert. Wird es wirklich dazu kommen?

Auf den ersten Blick scheint alles dafür zu sprechen. Die Union stellt zwar die mit Abstand stärkste Fraktion im Bundestag, aber sie hat keine eigene Mehrheit. SPD und Grüne haben schlechte Wahlergebnisse erzielt, aber durch das knappe Scheitern von AfD und FDP an der Fünfprozenthürde haben im Bundestag Parteien eine Mehrheit, die Steuern erhöhen wollen. Dass Angela Merkel vorerst Bundeskanzlerin bleiben kann, hat nur damit zum tun, dass SPD und Grüne den Wählern versprochen haben, nicht mit der Linkspartei zusammenzuarbeiten.

Daraus folgt aber nicht, dass Sozialdemokraten und Grüne begeistert sind, als Juniorpartner in eine Koalition unter Angela Merkel einzutreten. Sie befürchten, vermutlich nicht zu Unrecht, dass die Linke sie mit Forderungen nach mehr Umverteilung vor sich hertreiben könnte. Der Vorschlag der Linken, sofort nach der konstituierenden Sitzung des Bundestages über einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn abzustimmen, bietet einen Vorgeschmack. Die SPD hat außerdem 2009 die Erfahrung gemacht, dass sie in einer großen Koalition unter Angela Merkel Schwierigkeiten hat, bei den Wählern zu punkten.

Das hat zwei Konsequenzen. Erstens wird die SPD für die Koalition einen hohen Preis verlangen. Dieser Preis besteht voraussichtlich in einer Erhöhung des Spitzensatzes der Einkommensteuer. Die zweite Konsequenz ist, dass die Koalition kaum bis zum Ende der Legislaturperiode halten wird. Warum sollte die SPD der Union zugestehen, erneut mit Angela Merkel und ihrem Vorteil des Amtsbonus anzutreten? Die SPD hat erhebliche Anreize, die Koalition nach zwei oder drei Jahren zu beenden, mit Unterstützung der Linken Angela Merkel zu stürzen, eine Minderheitsregierung mit SPD-Kanzler(in) zu bilden und dann Neuwahlen auszurufen. Die Union würde nicht nur ohne Amtsbonus, sondern zusätzlich mit dem Makel dastehen, ihr Wahlversprechen – keine Steuererhöhungen – gebrochen zu haben. Die Entschuldigung, eine Koalition verlange eben Kompromisse, hat der FDP auch nicht geholfen.

Da die Union das weiß, wird sie sich vermutlich nicht auf Steuererhöhungen einlassen, jedenfalls nicht in einer Koalition mit der SPD. Das Ergebnis dieser Überlegungen lautet: Es wird keine große Koalition geben. Eine Koalition zwischen Schwarz-Grün ist auch wenig wahrscheinlich, weil die Gemeinsamkeiten noch geringer erscheinen als die zwischen Union und SPD. Damit bleiben nur Neuwahlen.

Natürlich ist all dies sehr spekulativ. Man kann hoffen, dass SPD und Union nicht machtpolitische Strategien, sondern das Wohl des Landes in den Vordergrund stellen. Sie könnten ihre Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat nutzen und wichtige Projekte wie die Energiewende, die Bekämpfung der Verschuldungskrise in Europa und die Reform der föderalen Finanzbeziehungen angehen. Wenn die inhaltlichen Gemeinsamkeiten erschöpft sind, könnten sie Neuwahlen ausrufen. Dieser Weg würde von der SPD allerdings mehr Gemeinsinn und Opferbereitschaft verlangen als von der Union. Ob Parteitaktik oder staatspolitisches Verantwortungsbewusstsein die Oberhand behalten, wird sich in den nächsten Monaten zeigen.