Mannheimer Wirtschafts- und Währungsgespräche: Ex-EZB-Präsident Jean-Claude Trichet pocht auf mehr fiskalpolitische Integration in Europa

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Ex-EZB-Präsident Jean-Claude Trichet bei seinem Vortrag am ZEW

Die Finanzkrise von 2007 hat Europa an den Rand des Ruins getrieben – hätte die Europäische Zentralbank (EZB) nicht im Einklang mit dem Europäischen Rat unkonventionell eingegriffen, um den Zusammenbruch zu verhindern. So sieht es Dr. h.c. mult. Jean-Claude Trichet, seinerzeit hautnah dabei. Der frühere EZB-Präsident hält die schwierigste Krise seit Ende des Zweiten Weltkriegs noch immer nicht für überwunden. Als Redner bei den Mannheimer Wirtschafts- und Währungsgesprächen des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) am 8. Dezember 2015 zog Trichet Bilanz und Lehre daraus: Europa ist mehr denn je auf verbindliche, fiskalische Regelungsstrukturen auf supranationaler Ebene angewiesen.

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Eine zentrale Konsequenz, die Trichet aus der Finanzkrise zieht, ist: "Wir brauchen eine gemeinsame Governance." Genau dahin ging auch sein Vortrag "Economic, Financial and Budgetary Governance of the Euro Area – Lessons from the Crisis and Future Development", den der Verwaltungsratsvorsitzende des Bruegel-Instituts in Brüssel am ZEW hielt. "Es besteht absolute Notwendigkeit für eine haushalts- und finanzpolitische Steuerung", erläuterte Trichet unter dem Eindruck einer bis heute andauernden Staatsschuldenkrise, die auf das Jahr 2007 zurückgeht. "Die Finanzkrise wirft immer noch ihre Schatten", unterstrich der französische Staatsmann. Hauptsächlich, weil es der EU damals wie heute an größerer fiskalischer Integration mangele.

"Die EZB hat ihr Mandat erfüllt"

Während der "generellen finanziellen Turbulenzen an den Märkten von August 2007 bis August 2008" sei die EZB das erste Kreditinstitut gewesen, das unkonventionelle Maßnahmen ergriffen habe. "Wir haben 95 Milliarden Euro an Liquidität für die Banken bereitgestellt", rekapitulierte Trichet. Die EZB habe damals genauso in der Verantwortung gestanden wie heute im Zuge der drohenden Staatspleite Griechenlands und einer unkonventionellen Methode der monetären Lockerung. "Die EZB hat ein vorrangiges Mandat, das ihr die europäischen Demokratien übertragen und das wir erfüllt haben: Die Garantie der Preisstabilität, auch wenn das in der Krise schwierig war", so Trichet.

Die Insolvenz der US-amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers im September 2008 habe eine "unmittelbare Bedrohung des Finanzsystems" verursacht. Innerhalb nur eines halben Tages sei es zu Ansteckungseffekten gekommen, die von den USA auf Japan und Großbritannien überschwappten. Trichet verglich diese Effekte mit den Zuständen kurz vor der Weltwirtschaftskrise von 1929: "Aufgrund des Lehmann-Konkurses hätte es zum Kollaps mit allen Folgen kommen können." Dass sich das Epizentrum aus den Vereinigten Staaten in die Eurozone verlagerte, lag Trichet zufolge an sechs Gründen.

"Wir haben den Stabilitäts- und Wachstumspakt nicht respektiert"

Nummer eins: "Wir haben den Stabilitäts- und Wachstumspakt nicht respektiert", so der Ex-Notenbanker. Zwar sei der Wortlaut des Paktes mehr oder weniger eingehalten, aber seine eigentliche Absicht nicht erfüllt worden. "Griechenland, Portugal und Irland verfolgten zum Beispiel eine zu laxe Fiskalpolitik", erörterte Trichet. Grund Nummer zwei sei die fehlende Überwachung von makroökonomischen Indikatoren wie den Lohnstückkosten in einzelnen Ländern gewesen. So hätten sich die nominalen Löhne und Gehälter im öffentlichen Dienst zwischen Anfang 1999 und Ende 2009 etwa in Griechenland um 117 Prozent und in Irland um 110 Prozent erhöht, im EU-Durchschnitt um 36 Prozent und in Deutschland um 20 Prozent – "daran erkennt man die Unterschiede", befand Trichet mit Blick auf die Wettbewerbsfähigkeit der Staaten, "es gab keine wirkliche Korrektur".

Als weitere Gründe führte Trichet das Fehlen einer Bankenunion, eines Krisenprogramms für den Notfall, den unvollendeten Binnenmarkt und nicht umgesetzte Strukturreformen an. Vor allem die Schaffung der Europäischen Bankenunion, wie sie derzeit voranschreitet, sei "ein großer Schritt für uns, um die einhundertprozentige Korrelation zwischen der Bonität eines Landes und seiner Banken aufheben zu können und um einen Binnenmarkt für Finanzdienstleistungen zu schaffen." Daneben seien der Ausbau des Euro-Stabilitätspakts, der Europäische Fiskalpakt, die Umgestaltung des "Europäischen Semesters für die Koordinierung der Wirtschaftspolitik" sowie das Makroökonomische Ungleichgewichtsverfahren von enormer Bedeutung. "Die Eurozone ist nicht zusammengebrochen, wie es viele Beobachter von außen prognostiziert haben", sagte Trichet zu diesen Maßnahmen. "Wir haben überlebt, Fortschritte gemacht und Lehren daraus gezogen." Allerdings wäre es jetzt ein Fehler, sich zurückzulehnen.

Kurzfristig komme es darauf an, die Europäische Bankenunion voll umzusetzen, vor allem mit Blick auf den einheitlichen Mechanismus zur Abwicklung maroder Banken, der ab Januar 2016 gelten soll. Langfristig sei es wünschenswert, dass der Euro-Raum nicht zu einem permanenten Transfersystem und der Posten eines Euro-Finanzministers geschaffen werde. Zudem empfahl Trichet, dem Europäischen Parlament mehr Kompetenzen in Entscheidungsprozessen zuzusprechen. Dadurch würde nicht nur die Glaubwürdigkeit der EU insgesamt, sondern auch die demokratische Legitimation enorm aufgewertet. "Es können nicht immer die Europäische Kommission und der Ministerrat sein, die die Entscheidungen treffen", schloss Trichet, "ich sehe kein besseres Organ als das Europäische Parlament."

Die Mannheimer Wirtschafts- und Währungsgespräche finden regelmäßig mit Unterstützung der Bankenvereinigung Rhein-Neckar Mannheim statt.