ZEW-Präsident Prof. Dr. Clemens Fuest

Die Wahlen zum Europäischen Parlament haben zwei Dinge gezeigt: Erstens ist das Interesse der Bürger nach wie vor gering. Der Versuch, den Wahlkampf durch die Nominierung von europaweiten Spitzenkandidaten spannender zu machen, ist gescheitert. Die Wahlbeteiligung war mit 43 Prozent enttäuschend. Das dürfte unter anderem daran liegen, dass es zwischen Martin Schulz und Jean-Claude Juncker inhaltlich kaum Differenzen gab. Beide stehen für 'mehr Europa', aber inspirierende Ideen zur Zukunft Europas hatte keiner der beiden zu bieten. Zweitens ist deutlich geworden, dass viele Bürger die Europawahl nutzen, um ihrem Ärger über die Regierung im eigenen Land Luft zu machen.

Welche Konsequenzen hat das Wahlergebnis für die Zukunft der EU? Die Strategie des britischen Premierministers David Cameron, der EU-feindlichen Partei UKIP durch seine eigene Kritik an Brüssel den Wind aus den Segeln zu nehmen, ist gründlich danebengegangen. Die Debatte über einen EU-Austritt Großbritanniens wird weitergehen. In der Eurozone besteht die größte Herausforderung der nächsten Jahre darin, die Wirtschaftskrise zu überwinden. Die nationalen Regierungen spielen dabei die zentrale Rolle. Sie müssen ihre Bevölkerungen dafür gewinnen, die Sanierung der Staatsfinanzen und die wirtschafts- und sozialpolitischen Reformen fortzusetzen. Viele dieser Reformen führen jedoch zu zusätzlichen Belastungen, bevor sie positiv auf Wachstum und Arbeitsmarkt wirken. Es ist kaum möglich, diesen Weg zu gehen, ohne Rückhalt in der Bevölkerung zu haben. Dass dieser Rückhalt in Griechenland gering ist, war zu erwarten. Der Wahlsieg der linksradikalen Partei ‚Syriza‘ mit 26 Prozent der Stimmen kombiniert mit dem Erfolg der rechtsradikalen ‚Goldenen Morgenröte‘, die immerhin zehn Prozent erreichte, kann die Regierung gefährden. Die Opposition fordert bereits Neuwahlen. Eine böse Überraschung ist das Wahlergebnis in Frankreich. Dort wäre es dringend erforderlich, Staatsausgaben und Steuern zu senken und Besitzstände in Frage zu stellen, um die Wachstumsschwäche des Landes zu überwinden. Ein Politikwechsel wird durch den Sieg des ‚Front National‘ jedoch erschwert. Impulse aus Frankreich für die europäische Politik dürften jedenfalls nachlassen.

In anderen Ländern hatten radikale Parteien allerdings weniger Erfolg. In Portugal und Spanien spielen sie keine nennenswerte Rolle. In den Niederlanden hat die antieuropäische Partei von Geert Wilders eine empfindliche Niederlage erlitten. In Italien hat die Partei des amtierenden Ministerpräsidenten Matteo Renzi die Wahl sogar gewonnen. Er will die Wirtschaft des Landes reformieren. Allerdings hat er versprochen, in der Fiskalpolitik den Sparkurs aufzugeben. Dieses Versprechen mag den Wahlerfolg erklären. Ob er es angesichts der hohen Staatsschulden halten kann, ist jedoch fraglich. Und in Deutschland? Ein bescheidener Erfolg der AfD, aber sonst kaum Veränderungen.

Insgesamt haben die etablierten Parteien in Europa zwar Verluste erlitten, aber der befürchtete europaweite Erdrutsch in Richtung radikaler Kräfte ist ausgeblieben. Die moderaten politischen Parteien sollten das aber nicht als Mandat für ein ‚Weiter so‘ verstehen. Erforderlich wäre mehr Ehrlichkeit gegenüber den Bürgern, was die Notwendigkeit von Anpassungen und Reformen angeht. Außerdem sollte die EU sich auf Politiken konzentrieren, die wirklich gesamteuropäischen Interessen dienen: Beispielsweise auf eine gemeinsame Energiepolitik, einen Ausbau der transeuropäischen Verkehrs- und Datennetze oder die Schaffung europäischer Streitkräfte. Das Geld dafür könnte aus Bereichen kommen, in denen europäische Politik keinen Mehrwert erzeugt, zum Beispiel in Teilen der Agrar- und Regionalpolitik. In den kommenden fünf Jahren muss deutlich werden, dass die EU fähig ist, eigene Politiken kritisch zu reflektieren und Fehlentwicklungen zu korrigieren. Wenn es außerdem gelingt, die Wirtschaftskrise zu überwinden, dürften die aktuellen Erfolge populistischer Parteien sich nicht wiederholen.