Dieser Beitrag ist als Standpunkt in den ZEWnews (September 2002) erschienen.

Es ist erstaunlich, wie leichtfertig mitunter die Politik trotz schlechter Erfahrungen immer noch quantitative Zielvorgaben proklamiert, etwa im Hinblick auf die Anzahl der Arbeitslosen, die sie mit der einen oder anderen Maßnahme in reguläre Beschäftigungsverhältnisse zu bringen gedenkt, oder in Bezug auf die Höhe bestimmter Beitragssätze zur Finanzierung der Systeme der sozialen Sicherung. Denn in den meisten Fällen hat die Politik die Zielerreichung nicht oder nur zum Teil in der Hand, selbst die in Aussicht gestellte Effektivität ihrer Maßnahmen einmal unterstellt.

Begreiflicherweise ist die Bevölkerung derartiger Versprechungen überdrüssig. Die frühere Bundesregierung wollte die Anzahl der Arbeitslosen halbieren und die derzeitige sich lange Zeit an der Marke von 3,5 Millionen Arbeitslosen messen lassen. Beide Zusagen wurden bekanntlich nicht eingehalten. Dieser offenkundige Wortbruch hielt aber beispielsweise die Kommission „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ („Hartz-Kommission“) im Sommer dieses Jahres nicht davon ab, erneut für Deutschland eine Halbierung und zusätzlich für Ostdeutschland eine Verringerung der Arbeitslosigkeit von mindestens 20 v.H. zuzusichern, sofern ihre Vorschläge in die Tat umgesetzt würden. Nimmt man sämtliche einschlägige (Wahl-) Versprechungen, welche zu einem guten Teil das Ergebnis komplementärer wirtschaftspolitischer Aktionen sind, zum Nennwert, dann erhebt sich beinahe schon die sorgenvolle Frage, ob denn genügend Arbeitslose vorhanden sind, um all diesen Beteuerungen Rechnung tragen zu können. Im Ernst: Wird damit nicht die Glaubwürdigkeit einiger durchaus sinnvoller wirtschaftspolitischer Strategien unnötig aufs Spiel gesetzt?

Zugegeben: Solche plakativen Zahlenangaben stellen die beste Gewähr für zugkräftige Schlagzeilen dar, und darauf sind Politiker nun einmal angewiesen.Hinzu kommt, dass auch Wirtschaftswissenschaftler in der wirtschaftspolitischen Beratungspraxis nicht der Versuchung widerstehen können, ihren Bekanntheitsgrad mit eingängigen Ziffern zu steigern, zumal wenn potenzielle Zweifel daran von vornherein mit dem Hinweis im Keim zu ersticken versucht werden, es handele sich um Computerberechnungen. Der Computer kann ja nicht irren. Aber wer in der einschlägigen Profession rechnet denn überhaupt noch mit Papier und Bleistift? Gleichwohl: Ehrlich im Sinne von bescheiden währt am längsten, denn die Menschen stehen dieser Maxime in ihrer Mehrheit aufgeschlossener gegenüber als vielleicht vermutet. Man kann ihnen schon verständlich machen, dass noch so fundierte Berechnungen Wahrscheinlichkeitsaussagen mit einer beträchtlichen Bandbreite darstellen und nur dann gelten, wenn alle anderen Einflussfaktoren nicht stören. Sie verstehen schon, dass (Wirtschafts-) Politiker nur zum Teil für die Misere auf dem Arbeitsmarkt verantwortlich und zuständig sind, beispielsweise weil die Tarifvertragsparteien die Führungsrolle bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit einnehmen müssen und überdies weltwirtschaftliche Entwicklungen einen wichtigen Einfluss ausüben, sodass die Möglichkeiten der Wirtschaftspolitik zwar durchaus gegeben, aber begrenzt sind. Dann akzeptieren die Wähler auch eine sehr viele größere Zurückhaltung bei quantitativen Zielvorgaben, vorausgesetzt, die Politik präsentiert eine einleuchtende wirtschaftspolitische Strategie, die auch vor unangenehmen Maßnahmen nicht halt macht. Gewiss: Ein wenig Mut gehört schon zu solchen Einlassungen. Warum bringen wir alle – Politiker und Wirtschaftswissenschaftler – ihn nicht auf und befleißigen uns in Interviews einer offenen und damit sympathischen Bescheidenheit? Man muss seriöse Berechnungen ja nicht gleich als „Kaffeesatzleserei“ diffamieren, wie unlängst geschehen.