Die "kalte Progression" ist eigentlich eine trockene Materie, die nur Spezialisten interessiert. Trotzdem macht das Thema derzeit Schlagzeilen. Das ist so, weil unter diesem Stichwort breite Steuerentlastungen diskutiert werden, die alle Steuerzahler aufhorchen lassen. Ist der Ruf nach Steuersenkungen zum Ausgleich für die kalte Progression gerechtfertigt?

Wenn die Einkommen zunehmen, egal ob durch Inflation oder durch real wachsende Wirtschaftskraft, die Bemessungsgrundlage und der Tarif der Einkommensteuer aber unverändert bleiben, nimmt die Steuerbelastung zu. Ein wachsender Anteil der Einkommen fließt an den Staat. Das wirft zwei Probleme auf. Erstens dehnt der öffentliche Sektor sich auf Kosten des privaten Sektors aus. Eine solche Verschiebung kann gewollt sein. Sie sollte dann aber nicht schleichend erfolgen, sondern offengelegt werden und von sichtbaren Steuererhöhungen begleitet sein. Zweitens führt die kalte Progression zu einer Änderung der Lastenverteilung. Zwar werden alle Steuerzahler stärker belastet, aber diese Mehrbelastung ist bei Beziehern niedriger Einkommen, bei denen es auf jeden Euro ankommt, besonders schmerzhaft und sollte ebenfalls nicht das Resultat automatischer und intransparenter Steuererhöhungen sein.

Wie ist die aktuelle Situation in Deutschland? Bei einigen Elementen der Einkommensteuer ist die kalte Progression in der Tat leicht sichtbar. Der Grundfreibetrag zum Beispiel ist seit der letzten großen Einkommensteuerentlastung im Jahr 2005 nur von 7.664 auf 8.130 Euro im Jahr 2013 erhöht worden, also um etwa sechs Prozent. Im gleichen Zeitraum stieg das Bruttoinlandsprodukt um rund 23 Prozent. Im Jahr 2014 wird der Grundfreibetrag auf 8.354 Euro steigen, aber das ändert nichts daran, dass er mit der allgemeinen Wirtschaftsentwicklung nicht mithält.

Man muss allerdings bedenken, dass es in den letzten Jahren durchaus Entlastungen gegeben hat, beispielsweise steigendes Kindergeld oder die Einführung der Absetzbarkeit von Ausgaben für Handwerkerleistungen. Das wirkt der Expansion der Steuereinnahmen durch kalte Progression entgegen. Hat der Staat sich insgesamt einen wachsenden Anteil der Wirtschaftskraft einverleibt? Die gesamten Steuereinnahmen von Bund, Ländern und Gemeinden schwanken seit Jahrzehnten zwischen 20 und 23 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Im Jahr 2005 war diese Quote mit 20,3 Prozent ungewöhnlich niedrig, wegen der gerade erfolgten Steuerentlastung. 2013 lag sie bei 22,7 Prozent, also eher am oberen Ende der üblichen Bandbreite. Ein ähnliches Muster zeigt sich beim Aufkommen der Einkommensteuer. Die Einnahmen aus Lohnsteuer und veranlagter Einkommensteuer sind zwischen 2005 und 2013 von 5,8 auf 7,3 Prozent des Bruttoinlandprodukts angestiegen. Die aktuellen, hohen Steuerquoten entsprechen denen des Jahres 2000. Damals wurde die letzte große Einkommensteuerentlastung beschlossen und bis 2005 umgesetzt. Nach den aktuellen Steuerschätzungen werden die Steuereinnahmen ohne Entlastung auch in den nächsten Jahren schneller wachsen als die Wirtschaftsleistung.

Hinzu kommt, dass die öffentlichen Haushalte ausgeglichen sind und die Politik auf die sprudelnden Steuereinnahmen derzeit durch nachlassende Ausgabendisziplin reagiert. Diskussionen über Aufgabenkritik und Subventionsabbau haben praktisch aufgehört, obwohl sie dringend notwendig sind. Stattdessen werden für fragwürdige Projekte wie die Rente mit 63 Milliarden verpulvert.

Vor diesem Hintergrund ist klar: Die Zeit für eine maßvolle Einkommensteuersenkung zum Ausgleich der kalten Progression ist gekommen. Wolfgang Schäuble hat eine Entlastung in Höhe von drei Milliarden Euro vorgeschlagen. Ich würde sagen: Es darf ruhig etwas mehr sein!