Die Katalonien-Krise wirft Schatten auf eine mögliche europäische Fiskalunion

Kommentar

In Kataloniens Hauptstadt Barcelona sind Demonstrationen für die Unabhängigkeit von Spanien derzeit an der Tagesordnung.

Nach dem Referendum über die Unabhängigkeit Kataloniens stehen sich Gegner und Befürworter einer Sezession unversöhnlich gegenüber. Spanien durchlebt mit dem chaotischen Konflikt um das Referendum eine schwere Belastungsprobe. Mit Blick auf die Zukunft einer möglichen europäischen Fiskalunion nimmt Prof. Dr. Friedrich Heinemann, Leiter des Forschungsbereichs „Unternehmensbesteuerung und Öffentliche Finanzwirtschaft“ am Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW), Mannheim, dazu Stellung.

"Der Zusammenhalt Spaniens durchlebt mit dem chaotischen Konflikt um das Unabhängigkeitsreferendum in Katalonien eine schwere Belastungsprobe. Der Wunsch vieler Katalanen nach Unabhängigkeit hat vielfältige historische, kulturelle und politische Ursachen. Von besonderer Bedeutung ist jedoch die fiskalische Dimension. Eine als zu weitgehend empfundene finanzielle Belastung und eine geringe budgetäre Autonomie der Region hat die Unabhängigkeitsbewegung in den vergangenen Jahren beflügelt. Diese Erfahrung ist für Europa von hoher Relevanz. Denn für die EU und die Eurozone werden derzeit ambitionierte Reformen der Finanzverfassung in Richtung einer stärkeren Zentralisierung diskutiert. Die Gefahr besteht, dass solche Weichenstellungen in Europa künftig – wie in Spanien heute – den Austritt aus dem Föderalsystem attraktiv erscheinen lassen.

Folgende Merkmale kennzeichnen die fiskalischen Beziehungen zwischen Katalonien und dem spanischen Gesamtstaat. Zwischen den in der Region vom Zentralstaat vereinnahmten Steuereinnahmen und den zurückfließenden öffentlichen Mitteln klafft eine erhebliche Lücke. Die spanische Regierung selber quantifiziert die Nettozahlungen der autonomen Region auf eine Größenordnung von etwa zehn Milliarden Euro jährlich. Dies entspricht fünf Prozent der katalanischen Wirtschaftsleistung. Berechnungen der Regierung Kataloniens weisen mit einer alternativen Methodik ein noch höheres Defizit in Höhe von 7,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) aus. Pro Kopf der Bevölkerung liegt die Belastung der Katalanen damit je nach Rechnung zwischen 1.300 und 1.900 Euro jährlich.  

Spanien würde ein Fünftel seiner Wirtschaftskraft einbüßen

Die Dominanz des Zentralstaats und die geringe fiskalische Eigenverantwortung Kataloniens spiegeln sich auch in der Verteilung der staatlichen Schulden wider. Spaniens Staatsverschuldung hat über alle staatlichen Ebenen hinweg im Jahr 2017 eine Höhe von 1.150 Milliarden Euro und damit fast 100 Prozent des BIP erreicht. Diese Verschuldung ist zu einem großen Teil eine direkte Verbindlichkeit der spanischen Zentralregierung. Katalonien ist zwar auch im eigenen Namen verschuldet. Diese eigenen Schulden belaufen sich aber lediglich auf 75 Milliarden Euro und damit auf moderate 35 Prozent der Wirtschaftsleistung Kataloniens. Diese vergleichsweise geringe unmittelbare Haftung der Regionen für die spanische Staatsverschuldung ist brisant. Eine Sezession Kataloniens würde Spanien ein Fünftel seiner Wirtschaftskraft kosten, die Staatsschulden des Zentralstaats aber nur geringfügig verringern. Dies könnte das ohnehin stark verschuldete Land finanziell aus der Bahn werfen. Die Frage der notwendigen Übernahme von Teilen der spanischen Verschuldung durch ein unabhängiges Katalonien wäre damit ein zentraler Konfliktpunkt einer jeden Unabhängigkeits-Verhandlung.

Versuche, die fiskalische Autonomie Kataloniens zu stärken und die finanzielle Netto-Belastung zu deckeln, sind in den letzten Jahren gescheitert. Das im Jahr 2006 nach komplizierten Verhandlungen vom spanischen Parlament verabschiedete neue Autonomiestatut Kataloniens hätte die fiskalische Eigenständigkeit der Region gestärkt und Obergrenzen für die finanzielle Belastung festgeschrieben. Diese fiskalischen Schutzrechte wurden im Jahr 2010 vom spanischen Verfassungsgericht kassiert. Dieses faktische Scheitern einer Dezentralisierung des spanischen Föderalismus am obersten Gericht hat der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung maßgeblich Auftrieb gegeben.

All diese innerspanischen Erfahrungen sind heute für Europas Reformdebatte hochgradig relevant. Viele Reformvorschläge zu einer möglichen 'europäischen Fiskalunion' sind Vorschläge für eine fiskalische Zentralisierung in Richtung neuer europäischer Budgets, zentraler EU-Steuern und neuer gemeinsamer Verschuldungs- und Transferinstrumente. Immer wieder wird dabei auf die Erfahrungen existierender Föderalstaaten verwiesen, die angeblich deshalb so gut funktionieren, weil es einen ausgebauten Finanzausgleich, große zentrale Budgets und zentrale Verschuldung gäbe.

Europas finanzielle Solidarität hängt von der Zustimmung der Menschen ab

Der Katalonien-Konflikt lehrt heute das Gegenteil. Eine zu weitgehende fiskalische Zentralisierung kann den politischen Zusammenhalt einer Föderation bis hin zum staatlichen Zerfall untergraben. Die Erfahrung Spaniens demonstriert, dass nicht einmal eine jahrhundertelange Geschichte der staatlichen Einheit eine Überlebensgarantie bietet. Diese Gefahr ist offenkundig in solchen Föderationen besonders ausgeprägt, wo wie in Spanien starke regionale Identitäten mit eigenen Sprachen und Nationalgefühlen existieren. Genau diese Bedingungen kennzeichnen aber auf Dauer die EU. Und daher sind die aktuellen Erfahrungen des spanischen Föderalsystems für Europa viel eher relevant als die Deutschlands mit seiner sprachlichen und kulturellen Homogenität.

Dass umfangreiche permanente Transfers von Süd- nach Nord- und Ostdeutschland über Jahrzehnte hierzulande keine Sezessionsbestrebungen auslösen, ist für ein europäisches Transfersystem ohne jegliche Aussagekraft. Nicht zuletzt der Brexit belegt, dass sich europäische Nationalstaaten schon bereits bei sehr geringen fiskalischen Lasten von der EU abwenden können. Hinzu kommt, dass ein Austrittsrecht in der EU-Verfassung festgeschrieben ist und mit dem Brexit ein Präzedenzfall geschaffen wird. Die Strategie spanischer Politiker und Richter, spanischen Regionen ein Austrittsrecht rundheraus abzusprechen, ist für die EU nicht verfügbar.

Die Katalonien-Krise liefert somit drei zentrale Erkenntnisse, die bei der Fortentwicklung des europäischen Fiskalsystems berücksichtigt werden sollten. Erstens sind ehrgeizige fiskalische Versicherungs- und Transfersysteme ein Risiko für die politische Akzeptanz und das Überleben der EU. Kommt es zu länger anhaltenden einseitigen Belastungen von Mitgliedstaaten, begünstigt dies dort Austritts-Bewegungen. Zweitens ist eine europäische Zentralisierung von Staatsschulden ein Risikofaktor für den möglichen künftigen Austritt von Mitgliedstaaten, weil sich daraus unklare Haftungsregeln und somit Risiken von neuen Schuldenkrisen ergeben. Und drittens schließlich können die Urteile zentraler Verfassungsgerichte kaum die fehlende Akzeptanz für weitgehende Umverteilungssysteme ersetzen. Sowenig wie das Urteil des spanischen Verfassungsgerichts von 2010 die Lage beruhigen konnte, sowenig werden künftige europafreundliche Urteile des Europäischen Gerichtshofs für eine Legitimität fiskalischer Umverteilung sorgen können. Finanzielle Solidarität zwischen den Staaten Europas hat keine Zukunft, wenn sie nicht durch eine breite Zustimmung der Menschen in den belasteten Staaten getragen ist."

Dieser Beitrag ist zuerst am 6. Oktober 2017 in der "Süddeutschen Zeitung" erschienen.