Über die Zukunft der EU debattierten (v.r.): Europaparlamentarierin Sylvie Goulard, ZEW-Ökonom Friedrich Heinemann, EU-Abgeordneter Peter Simon, Pierre Boyer von der École Polytechnique und ZEW-Präsident Achim Wambach.

Die Entscheidung des Vereinigten Königreichs zum Austritt aus der Europäischen Union hat den Kontinent tief verunsichert. Wie also soll und kann der EU-Integrationsprozess weitergehen? Und was werden die beiden stärksten Wirtschaftsnationen neben Großbritannien - Deutschland und Frankreich - tun? Zentrale Fragen zur Zukunft der EU, um die es bei der ZEW Lunch Debate am 28. September 2016 in der Brüsseler Vertretung des Landes Baden-Württemberg bei der EU ging.

Prof. Achim Wambach, Ph.D., Präsident des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW), betonte in seinem Einführungsvortrag "Brexit: A Fractured Europe?", dass um die wichtigen Entscheidungen in Bezug auf Europa wieder in den nationalen Parlamenten gerungen werden müsse. Die EU-Mitgliedstaaten müssten ihre Hausaufgaben machen, um auf supranationaler Ebene handlungsfähig zu bleiben - gerade, weil innereuropäische Spannungen nach dem "Brexit" deutlich zutage träten.

Wo diese Spannungen verlaufen, legten Prof. Dr. Friedrich Heinemann, Leiter des ZEW-Forschungsbereichs "Unternehmensbesteuerung und Öffentliche Finanzwirtschaft", und Prof. Pierre Boyer, Ph.D., Juniorprofessor für Theoretische Finanzwissenschaft an der Pariser École Polytechnique, dar. Zusammen mit der Universität Mannheim hatten das ZEW und die École Polytechnique eine Umfrage unter deutschen und französischen Parlamentariern gestartet, um die wirtschaftspolitischen Perspektiven und EU-Kompetenzverteilungen nach dem Brexit auszuloten. "Wir wissen eine Menge über die Ansichten von Wählern/-innen zu EU-relevanten Politikinhalten. Bei Politiker/innen sieht das anders aus", erläuterte Friedrich Heinemann den Ansatz der Umfrage. Unter dem Strich zeige sich, dass Frankreichs Abgeordnete tendenziell offener für eine Verlagerung von mehr Kompetenzen auf EU-Ebene seien, während ihre deutschen Kollegen/-innen eine skeptischere Haltung an den Tag legten.

"Nationalismus bringt uns nicht weiter"

Mit Friedrich Heinemann und Pierre Boyer saßen Sylvie Goulard, Mitglied des Europäischen Parlaments (MEP) in der Fraktion der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE) sowie Mitglied im Ausschuss für Wirtschaft und Währung des Europaparlaments, und Peter Simon, MEP in der Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten (S&D) sowie stellvertretender Vorsitzender des Wirtschafts- und Währungsausschusses des Europaparlaments, auf dem Podium. ZEW-Präsident Achim Wambach moderierte die Debatte vor rund 140 hochrangigen Vertretern/-innen des EU-Parlaments, der EU-Kommission sowie aus Unternehmen und von Interessenverbänden.

Sylvie Goulard war wenig überrascht von den Ergebnissen der Parlamentarier-Umfrage: "Die deutsch-französischen Beziehungen basieren traditionell auf Meinungsverschiedenheiten." Positiv sei indes, dass über die zwei dominierenden Sicherheitsthemen unserer Zeit - Migration und Verteidigungspolitik - Konsens unter den befragten Abgeordneten beider Länder herrsche. "Jetzt sollten wir uns allerdings beeilen", betonte Goulard, "wir haben bereits eine Menge Zeit seit dem Brexit-Votum verloren." Wegen der britischen Entscheidung sei Europa nun mehr denn je auf Teamarbeit angewiesen. Anderenfalls werde die EU über kurz oder lang schlicht von der Bildfläche verschwinden. "Nationalismus bringt uns nicht weiter", so Goulard.

"Wir brauchen mehr Europa"

Den Faden eines staatenzentrierten Blickwinkels auf Europa griff Peter Simon auf. Die vorgestellten Umfrageergebnisse würden den Egoismus vieler Mitgliedstaaten belegen: "Das Kernproblem besteht darin, dass Europa eine schöne Sache für seine Mitglieder ist, solange sie unmittelbar davon profitieren und keine weiteren Kompetenzen abgeben müssen." Die kurzfristigen Perspektiven auf nationaler Ebene drehten sich vielfach schlicht um ökonomische Vorteile, die langfristigen Vorzüge der Union seien innerhalb der vergangenen zehn Jahre verloren gegangen. "Was wir jetzt brauchen, ist eine Auseinandersetzung über die fundamentale Weiterentwicklung der EU", so Simon, "wir brauchen mehr Europa." Dazu seien Entscheidungsverfahren nötig, die ausgeglichene Ergebnisse für alle beteiligten Mitglieder brächten.

Auf diesen Punkt ging Pierre Boyer ein: "Manche Parlamentarier argumentieren, dass mit der Abgabe von mehr Kompetenzen ein Kontrollverlust einhergeht." Auf die Frage nach dem "quo vadis" warf der französische Ökonom ein: "Politische Entscheidungen und Mechanismen, die die entstehenden Risiken auf mehrere Schultern verteilen, können durchaus zu mehr Integration führen."

Aus dem Publikum wurde die Frage laut, wie denn ein Ansatz zur Risikoteilung in der Eurozone praktisch aussehen könne. Was wird aus der EU-Energieunion? Wie steht es um eine gemeinsame Steuerpolitik der Mitgliedstaaten? Und korrespondieren die politischen Vorstellungen der Parteien im EU-Parlament und in den einzelnen nationalen Volksvertretungen mit den akuten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Sachzwängen? Fragen, die die Notwendigkeit einer intensiven Auseinandersetzung über die Zukunft der EU über den Horizont der ZEW Lunch Debate und den Brexit hinaus deutlich machten.